© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

Mehr gequält als gewählt
Chaos-Kapitale: Berlins Urnengang ist ein Fall fürs Verfassungsgericht
Ronald Berthold

Haben in Berlin sogar 120.000 Tote mitwählen können? Dieser neue Verdacht ergibt sich aus dem Einspruch des Spitzenkandidaten der Freien Wähler, Marcel Luthe, gegen das Endergebnis. Der ehemalige FDP-Innenpolitiker legt dar, daß sich so die Beteiligungen von deutlich mehr als 100 Prozent in 16 Wahlbezirken erklären. Mit der Eidesstattlichen Versicherung eines Betroffenen beweist Luthe, daß Dritte die Wahlunterlagen von Verstorbenen erhalten haben.

Auf den Berliner Landesverfassungsgerichtshof kommt nun Schwerstarbeit zu. Nach der Veröffentlichung der Wahlergebnisse im Amtsblatt ist es nun offiziell möglich, gegen die unter chaotischen Umständen abgelaufene Wahl Einspruch zu erheben. Dies dürfen nur Parteien und Kandidaten, nicht die Bürger. AfD, Die Partei und sogar die Landeswahlleitung haben angekündigt, den Urnengang anzufechten. Luthe hat es bereits getan. Der JUNGEN FREIHEIT liegt sein 46seitiger Einspruch vor.

Besonders pikant ist dabei der Blick auf die Verstorbenen. Der 44jährige schreibt, daß Berlin laut Bundesverfassungsgericht eine „defizitäre Registerqualität und fragwürdige Meldekultur“ habe. Dies geschehe aus fiskalischem Interesse. Über das Unterlassen von Abmeldungen auch in Todesfällen gebe der Stadtstaat höhere Einwohnerzahlen an, die sich positiv auf den Länderfinanzausgleich auswirkten. Folge: Die Verstorbenen bleiben wahlberechtigt.

„Briefwähler konnten nochmal im Wahllokal ihre Stimme abgeben“

Luthe erhebt nicht nur Einspruch gegen die Wahlen und das Referendum zur Enteignung von Immobilienunternehmen. Er versucht auch, die Fünfprozenthürde zu kippen. Darüber hinaus beantragte er, daß sich weder das Abgeordnetenhaus noch die Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) konstituieren dürfen, bis das Gericht über die Anfechtung entschieden hat. Diese Eilanträge wies der Verfassungsgerichtshof jedoch am Montag unter Verweis auf die zwingend einzuhaltende Frist von sechs Wochen zwischen der Wahl und der konstituierenden Sitzung zurück. 

Jurist Luthe läßt nun auch diese Entscheidung verfassungsrechtlich prüfen, indem er noch am selben Tag eine sogenannte Anhörungsrüge erhob. Zur Begründung heißt es, der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs sei nicht zu entnehmen, „daß sich das Gericht mit den Argumenten des Antragstellers auseinandergesetzt hat“. Denn „um festzustellen, ob hier eine Frist zwischen Wahlen und erstem Zusammentreten (zwingend) einzuhalten ist, muß zunächst geklärt werden, ob überhaupt eine (den demokratischen) Grundsätzen genügende Wahl stattgefunden hat“, argumentiert das ehemalige Abgeordnetenhausmitglied. Andernfalls drohe die Gefahr, daß „eine Legislative ihre Arbeit aufnehme und Gesetze oder gar Verfassungsänderungen“ beschließe, „die Bestand hätten, obwohl diese Legislative in Wirklichkeit gar nicht dem Willen des Souveräns entsprechend zusammengesetzt ist.“

Seinen Einspruch gegen das Wahlergebnis begründet Luthe mit zahlreichen Details. Die überlangen Wartzeiten, Warteschlangen und fehlenden sowie vertauschten Stimmzettel dürften als belegt gelten, da die Landeswahlleiterin sie eingeräumt hat. Bei bis zu fünf Stunden hätten Wahlberechtigte aufgegeben und ihr Stimmrecht verfallen lassen müssen, führt er mit Bezug auf einen RBB-Bericht aus.

Der Politiker bringt zahlreiche Eidesstattliche Versicherungen (EV) bei – darunter die eines Wahlberechtigten, der dreimal mit der Stimmabgabe scheiterte. Außerdem seien Bürger nach Hause geschickt worden und konnten wegen ausgegangener Wahlzettel nicht abstimmen. Andere seien womöglich eingelassen worden, obwohl sie sich erst nach 18 Uhr in die teilweise mehr als 100 Meter langen Schlangen eingereiht haben. Dies wäre unzulässig. Außerdem kopierten Wahlhelfer aus Mangel die Stimmzettel. Einen davon fügt Luthe als Beweis bei. Dadurch sind sie von den Originalen unterscheidbar, was gegen den Geist einer geheimen Wahl verstoße. Ohnehin sei es verboten, nichtamtliche Zettel zu verwenden.

Auch die Briefwahl lief falsch ab. Zum Teil fehlten „entweder der Stimmzettel für die Bundestagswahl oder es wurde mit den Briefwahlunterlagen ein Stimmzettel von einem benachbarten Wahlkreis übersandt“, schreibt Luthe. Unterlagen an Wähler seien zudem mehrfach zugestellt worden. Er belegt das mit einem Anlagenkonvolut. Briefwähler konnten auch „noch einmal ihre Stimme im Wahllokal abgeben“. Ausländer und unter 18jährige erhielten zudem „die Unterlagen zur Teilnahme an den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und dem Bundestag.“ Aus der EV eines Briefwahlvorstehers lasse sich schlußfolgern, so Luthe, „daß nicht gewährleistet werden konnte, daß Jugendliche oder EU-Bürger ausschließlich an den Wahlen zur BVV teilnehmen“. Es sei auch möglich gewesen, daß Briefwähler ihre Landtags- und Bundestagswahl-Unterlagen an Minderjährige und EU-Ausländer aushändigten, die dann abstimmten. Die Wahlberechtigten, die ihre Unterlagen weitergegeben haben, „hätten dann am Wahltag im Wahllokal neue Stimmzettel erhalten können“, zitiert Luthe den RBB.

Dies sei von „erheblicher Relevanz“, weil allein acht Prozent der BVV-Wahlberechtigten EU-Ausländer waren. Wie viele auch an der Abgeordnetenhaus- und Bundestagswahl teilnahmen, lasse sich nicht mehr überprüfen, weil „Alter und Staatsangehörigkeit“ in den Wählerverzeichnissen nicht festgehalten werden. Besonders kraß: In einem ebenfalls mit einer EV belegten Fall kamen die Briefwahlunterlagen „mit einem personalisierten Wahlschreiben der SPD“ an. Zudem sind offenbar Stimmen für die AfD-Abspaltung LKR unterschlagen worden. Drei Wähler versichern, die Partei gewählt zu haben. In ihrem Wahllokal wurden aber null Stimmen ausgewiesen. Woanders erhielten 363 Wähler keine Zweitstimmen-Wahlzettel. Der Wahlvorstand schätzte daraufhin die Verteilung.

Insgesamt gebe es, so Luthe, eine „bisher noch nie dagewesene Kumulation von schwersten Wahlfehlern“. Jeder für sich allein müßte „schon die Ungültigkeit des Wahlergebnisses nach sich ziehen“. 

Differenzen zwischen vorläufigem und amtlichem Endergebnis

Daß der Politiker, der sich einst als Innenexperte der FDP einen Namen in der Berliner Landespolitik gemacht hatte, mit seinen Vorbehalten gegen die Rechtmäßigkeit der Wahl nicht allein auf weiter Flur steht, zeigt eine aktuelle Auflistung des Tagesspiegels: So gab es in mehreren Wahllokalen erhebliche Unterschiede zwischen dem vorläufigen und dem amtlichen Endergebnis der Zweitstimmen für das Abgeordnetenhaus. In zwei Wahllokalen im Bezirk Spandau differierten sie bei CDU und SPD um jeweils genau hundert Stimmen. In einem Wahllokal in Mitte wurden für die AfD zunächst 89 Stimmen gezählt, im amtlichen Endeergebnis waren es nur noch 26. Umgekehrt lag der Fall in eimem Wahllokal im Stadtteil Reinickendorf: Dort wurden aus drei Stimmen für die AfD am Ende 58. Und aus 13 vorläufigen Stimmen für die SPD wurden 96. Auf Nachfrage der Zeitung nach den Gründen für derlei krasse Abweichungen war von „Übertragungsfehlern“ oder „schlicht einem versehentlichen Mißgeschick“ die Rede. Auswirkungen auf die Sitzverteilung hätten all diese Anzeichen mangelnder Sorgfalt jedoch nicht gehabt. 

Die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts wird in mehreren Monaten erwartet.