© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

Mehr Schein als Sein
Türkei: Der florierende Außenhandel ist ein Lichtblick für Erdoğans verzwickte Lage
Marc Zoellner

Für den türkischen Handelsminister ist die Bilanz dieses Oktobers ein kleiner Grund zum Feiern. Immerhin ist das Exportvolumen des Landes in den vergangenen zwölf Monaten um über zwanzig Prozent gestiegen, wie Mehmet Muş verkündete. 

Allein im vergangenen Monat habe es rund 20,8 Milliarden US-Dollar, umgerechnet etwa 18 Milliarden Euro an Handelsvolumen betragen. „Auch die Exportsumme der vergangenen zwölf Monate in Höhe von 215,7 Milliarden US-Dollar stellt ein neues Allzeithoch dar“, erklärte er stolz. 

Umfragewerte der AKP deutlich gesunken

Tatsächlich stellt der stabile Außenhandel der Türkei einen Lichtblick in der ansonsten geschundenen Volkswirtschaft am Bosporus dar. Die Türkische Lira erfährt einen immensen Wertverfall, der im Vergleich zum Euro allein in diesem Jahr über zwölf Prozent, in den vergangenen zehn Jahren sogar fast achtzig Prozent ihres Tauschkurses betrug. 

Mit neun Prozent darf sich die türkische Wirtschaft, die für 2024 ein Bruttoinlandsprodukt von über einer Billion US-Dollar ansteuert, dieses Jahr zwar über ein Wirtschaftswachstum höher als das der Volksrepublik China freuen, doch die grassierende zweistellige Inflation des Landes zehrt längst an den Löhnen der Geringverdiener. 

Dementsprechend ernüchternd waren die jüngsten Umfragewerte der AKP: Lag sie bei den Parlamentswahlen im Juni 2018 noch bei 42,8 Prozent, würden nun gerade einmal 28,9 Prozent der türkischen Bürger ihre Stimme den Konservativen anvertrauen. Der Koalitionspartner MHP verlor sogar die Hälfte seiner Zustimmung und brach auf 6,6 Prozentpunkte ein. Angesichts der 10-Prozent-Hürde würde die nationalistische Partei nach jetzigem Stand den Einzug in das Parlament verfehlen. Die sozialdemokratische CHP sowie die aus der MHP sich abgespaltene İyi Parti konnten ihre Stimmanteile mit derzeit 28,7 beziehungsweise 13,5 Prozentpunkten hingegen konsequent ausbauen. Von Kritikern seiner eigenen Partei auf diese Umfragen angesprochen, soll Präsident und Parteichef Recep Tayyip Erdoğan salopp kommentiert haben: „Ihr lügt, ich kenne die Straße besser als ihr!“ 

Im Juni 2023, zum hundertjährigen Bestehen der Türkei, sind die nächsten Wahlen zur Großen Nationalversammlung angesetzt. Innerparteilich dürfte das Staats- und Parteioberhaupt sich kaum in Gefahr wähnen: Sein Schwiegersohn Berat Albayrak, der lange Zeit als möglicher „Thronfolger“ Erdoğans galt, mußte im November 2020 offiziell aus gesundheitlichen Gründen seinen Posten als Finanzminister räumen. Als politisch schwer angeschlagen gilt ebenso Innenminister Süleyman Soylu, der sich eine Reihe von Fehlentscheidungen bei der Corona-Politik sowie verbale Ausfälle gegen Oppositionspolitiker geleistet hat. Sofern es CHP und İyi nicht gelingt, sich bis 2023 auf einen gemeinsamen starken Kandidaten zu einigen, dürfte der Regierungschef sich trotz schlechter Umfragewerte bei den Parlamentswahlen 2023 ins Fäustchen lachen. 

Erdogan will Nationalisten mit außenpolitischen Manövern angeln

Die Stimmanteile nationalistischer Bevölkerungsgruppen versucht er sich unterdessen mit außenpolitischen Manövern zu sichern. So auch mit seinem zuletzt verstärkten militärischem Engagement im syrischen Bürgerkrieg gegen die kurdische Rebellengruppe YPG sowie der versuchten Ausweisung von Botschaftsangehörigen aufgrund deren Intervention in innenpolitische Fragen der Türkei. Auch volkswirtschaftlich begnügt sich der Präsident bislang noch mit Etappensiegen anstatt langfristigen Strategien.