© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

Grüße aus … Santiago de Cuba
Volkszorn im Netz
Alessandra Garcia

Kritik an Mißständen war auf Kuba jahrzehntelang tabu. Mochten die öffentlich geäußerten Einwände noch so berechtigt sein, galt die alte sozialistische Doktrin, daß ein Eingeständnis von Fehlern nur dem Klassenfeind nutze. Tatsächlich ergriffen die Landsleute im Exil und ihre „Propagandamedien“, wie das US-Radio Martí, das sich speziell an die Bevölkerung in Kuba richtet, jede Gelegenheit, um selbst die kleinsten Korrekturen von Fehlentwicklungen der Regierung als erste Schritte zum Umsturz zu deuten. Seitdem viele Inselbewohner im Internet unterwegs sind, hat sich der Maulkorb etwas gelockert. Es darf  in Maßen gemeckert werden. 

Die sozialistische Regierung verfolgt neuerdings eine Strategie der Offenheit. Ineffizienz, strukturelle Probleme und die Überforderung von Führungskadern werden ganz konkret benannt. Und was die Funktionäre nicht selbst aufzählen, greifen die unzähligen Kommentare unter den Beiträgen im Netz auf. In den Kommentarspalten ist vieles möglich – solange das System nicht prinzipiell in Frage gestellt wird. Auf der offiziellen Nachrichtenplattform Cubadebate zeigt sich der hochkochende Unmut vieler Kubaner. 

Funktionäre versuchen, kritische Bevölkerung mit Rechtfertigungsstürmen mürbe zu machen.

Daraufhin rechtfertigen sich, beginnend vom Staatspräsidenten über den zuständigen Minister, dessen Stellvertreter bis zum letzten Abteilungsleiter plötzlich alle Personen, die auch nur entfernt etwas mit dem Problem zu tun haben. Und zwar so detailliert, daß dem Leser der Kopf schwirrt. So verwiesen viele Inselbewohner etwa auf die jüngste tagelange Stromsperre. Beginnend mit den US-Sanktionen und ausbleibenden Öllieferungen aus Venezuela erfuhren sie daraufhin exakt, wie ihr eigenes Öl beschaffen ist, wie sich der Stromverbrauch entwickelt hat und welche Probleme es bei den Umspannwerken gibt. Weiter werden sie über Verzögerungen bei der Inbetriebnahme neuer Blockheizwerke in irgendwelchen unbekannten Gemeinden informiert. Selbst der ausdauerndste Leser scrollt jetzt bereits nach unten, wo der Beitrag mit einem optimistischen Zitat des ehemaligen Präsidenten Fidel Castro abgerundet wird. Unter den umfangreichen Ausführungen sammeln sich Hunderte Kommentare. 

Kubaner aus allen Ecken des Landes wünschen die verantwortlichen Manager zum Teufel. Andere lassen ganz ohne Ironie die Revolution hochleben. Und wenn schließlich auch der Handy-Akku aufgibt, und die Kubaner damit von ihrer wichtigsten Informationsquelle abgeschnitten sind, werden sie sehr ärgerlich. Dann marschieren sie schnurstracks zu ihrem Blockwart und treffen dort die ebenfalls wütende Nachbarschaft. Und der weiß mit dem Volkszorn umzugehen. So gab es in mehreren Gemeinden um Santiago nach zwei Stunden wieder Strom. Zumindest für einen ganzen Tag.