© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

„Mit der Pistole am Kopf“
Polen: Der EuGH sanktioniert das Land wegen seiner Justizreform mit einer Strafzahlung von einer Million Euro pro Tag
Paul Leonhard

Nach vielen Worten der Drohung macht die EU Ernst. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hat sein schärfstes Schwert gezückt und Polen zu einer Strafzahlung verurteilt. Nicht weniger als eine Million Euro muß das ostmitteleuropäische Land zahlen. Und das alle 24 Stunden.

Für jeden Tag, an dem es das Disziplinargericht nicht auflöst, wird das EU-Mitglied zur Kasse gebeten. Die Vorstellungen der westeuropäischen Regierungen von Rechtsstaatlichkeit kollidieren seit Jahren mit dem osteuropäischen Wertesystem. Insbesondere betrifft das Ungarn und Polen. In zweiter Reihe stehen aber auch Tschechien und die Slowakei sowie mit etwas Abstand Slowenien, Rumänien, Bulgarien, mitunter sogar Österreich unter Beobachtung. 

Morawiecki: Werden keinen einzigen Zloty zahlen

Im Falle Polens beanstandet die EU eine Justizreform des Landes, die vorsieht, Richter mit Geldstrafen, Herabstufung oder Entlassung zu sanktionieren, wenn sie die Entscheidungskompetenz oder Legalität eines anderen Richters, einer Kammer oder eines Gerichts in Frage stellen. Aus Brüsseler Sicht ist dies mit dem Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit unvereinbar. Der EuGH versucht laut ARD-Korrespondentin Helga Schmidt angeblich „seit Jahren mit Urteilen zu verhindern, daß in Polen der Rechtsstaat abgebaut wird“. 

Bereits im Juli hatte die nationalkonservative PiS-Regierung angekündigt, die Disziplinarkammer am Obersten Gericht in Warschau, die Richter und Staatsanwälte entlassen kann, lediglich alte Fälle abarbeiten zu lassen. Diese Zeit hatte die EU-Kommission aber nicht, da mehrere EU-Abgeordnete drohten, sie wegen Untätigkeit zu verklagen. So rief die Behörde erneut den EuGH an, endlich zu handeln. Warschau leistet bereits für den Weiterbetrieb des Braunkohletagebaus im tschechisch-polnisch-deutschen Dreiländereck bei Turow seit dem 20. September Strafzahlungen in Höhe von 500.000 Euro pro Tag. Regierungschef Mateusz Morawiecki bekräftigt klar und deutlich, nicht gewillt zu sein, die Luxemburger Entscheidung zu akzeptieren und „auch nur einen einzigen Zloty zu zahlen“. Sein Land sei nicht länger bereit, „mit einer Pistole am Kopf“ über seine Rechtsstaatlichkeit zu verhandeln.

 Wenn der PiS-Politiker sein Land in der permanenten Opferrolle wähnt und „vom Dritten Weltkrieg“ spricht, den die EU vermeintlich gegen dieses plane, meint er damit auch noch etwas anderes: die enormen Mittel, die das Land derzeit aufwendet, um die übrigen EU-Staaten, insbesondere Deutschland, vor den Migrantenströmen aus dem Osten zu schützen. 

Weigert sich Polen tatsächlich zu zahlen, wird sich Brüssel wohl aus den dem Land zustehenden EU-Geldern bedienen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen warnt, daß etwa die Corona-Hilfen in Höhe von 36 Milliarden Euro blockiert werden könnten. Hinter der Drohung steckt durchaus eine Handhabe, denn die EU-Kommission ist neben der Überwachung der Rechtsstaatlichkeit auch für die Haushaltsführung zuständig. Bis der Generalanwalt als Gutachter des Gerichts am 2. Dezember sein Votum veröffentlicht, wird Polen die Zahlungsaufforderungen der EU-Kommission gewiß ignorieren. 

Die Umsetzung des Gerichtsbeschlusses sei nötig, um einen „schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden“ von der Rechtsordnung der EU abzuwenden, teilte EuGH-Vizepräsident Lars Bay Larsen mit. Polen wiederum beharrt auf dem Standpunkt, daß nationales Recht in diesen grundlegenden Fragen über dem EU-Recht stehe. So hatte es das Verfassungsgericht des Landes Anfang Oktober entschieden. Allerdings ist dieses aus Sicht der EU-Kommission keine unabhängige Instanz mehr, sondern eine „Sprechpuppe“ der Regierung, wie ein polnischer Oppositioneller unlängst schrieb. 

Vize-Justizminister Sebastian Kaleta wirft auch dem EuGH vor, die polnische Verfassung und die Urteile des Verfassungsgerichts „komplett zu ignorieren“. Die jüngste Entscheidung sei eine weitere Etappe in der Operation, seinem Land die Handhabe über nationale Fragen zu nehmen. Der „politische Dialog“, auf den Angela Merkel auf ihrem letzten EU-Gipfel als Bundeskanzlerin gedrängt hatte, dürfte vorerst gescheitert sein. 

Die EU wird sich früher oder später mit der Frage beschäftigen müssen, ob die Mehrheit der Mitgliedstaaten tatsächlich eine „immer engere Union“ will oder doch eher einen Bund souveräner Nationalstaaten. 

EuGH wird auch über Rechtsstaatsmechanismus urteilen

Der EuGH dürfte demnächst erneut ein spannendes Urteil fällen, wenn er entscheidet, ob der Rechtsstaatsmechanismus von den EU-Verträgen gedeckt ist. Seit Jahresbeginn ist dieser in Kraft. Er erlaubt es dem Rat per Mehrheitsbeschluß, einem Mitgliedsland Haushaltsmittel zu entziehen, wenn dessen Regierung gegen die EU-Werte verstößt. Auch die Einführung dieses Sanktionsmechanismuses ist Streitigkeiten der EU mit Ungarn und Polen geschuldet.

 Meinungsbeitrag Seite 2