© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

Peking will das Herz Asiens schlagen sehen
Chinas Afghanistanpolitik: Unterstützung in allen Belangen, doch auch mahnende Worte in Richtung Taliban
Marcel Waschek

Es vergeht kaum ein Tag, an dem Chinas Außenminister Wang Yi nicht mit Vertretern der afghanischen Übergangsregierung der Taliban spricht und dabei den „langjährigen und freundschaftlichen Austausch der beiden Völker“ hervorhebt. So auch im Gespräch mit dem amtierenden Außenminister, Amir Khan Muttaqi, in der vergangenen Woche in Doha. Hierbei betonte Wang Yi, daß Peking das Streben Afghanistans nach einem eigenen Entwicklungsweg und einem Regierungsmodell, das den nationalen Gegebenheiten entspreche, sowie die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität des Nachbarlandes respektiere. 

Gern bedient sich Peking dieser stolzen Tradition. Schon seit den 1990er Jahren versucht die östliche Großmacht den Landhandel nach Westen wieder aufleben zu lassen. 2013 nahmen die Bestrebungen klarere Formen an, als Präsident Xi Jinping auf Besuchen in Kasachstan und Indonesien die „Belt and Road Initiative“ vorstellte. Die Initiative besteht aus Straßen- und Schienennetzen sowie See- und Flughäfen. Bildungsprojekte, Pipelines und Industrieprojekte entlang des Ost-West-Korridors zählen ebenso dazu. Das heutige Afghanistan nimmt dabei nach der Machtübernahme der Taliban eine zentrale Rolle ein.

Pekings Sorgen und Ängste vor dem Islamischen Staat

Neu sind die Taliban den Chinesen nicht. Hatte die Volksrepublik doch nach dem Einmarsch der Sowjets begonnen, zusammen mit den USA, Pakistan und diversen anderen Staaten die Mudschahedin, den religiös begründeten Widerstand gegen die UdSSR und deren Vasallenregierung unter Babrak Karmal und Mohammed Najibullah zu unterstützen, was sie allerdings bestritt. 

Dafür hatte Peking sogar die wenig erfolgversprechenden maoistischen Widerstandsgruppen geopfert. Nachdem der letzte Schützenpanzer mit Hammer und Sichel die Grenze nach Norden überquert hatte und Najibullah drei Jahre später von Abdul Raschid Dostum gestürzt wurde, waren die Taliban, welche sich aus den radikaleren Mudschahedin gebildet hatten, nach einem blutigen Bürgerkrieg als weitestgehende Sieger mit der Kontrolle über den Großteil des Landes hervorgegangen. Im November 2000 traf sich der damalige chinesische Botschafter in Pakistan, Lu Shulin, als erster Vertreter eines nicht-muslimischen Landes mit Mullah Omar, dem Oberhaupt des Islamischen Emirates Afghanistan.

Seit 2017 bemühte sich der chinesische Außenminister Wang Yi darum, zwischen dem der Volksrepublik sehr nahestehenden Pakistan und der durch das Ausland gestützten afghanischen Regierung unter Ashraf Ghani zu vermitteln. Am 28. Juli dieses Jahres traf Wang sich mit einer Abordnung der Taliban in Tianjin. Zudem ist China der größte Investor Afghanistans und die chinesische Staatsfirma China Metallurgical Group bekam bereits 2007 die Genehmigung, Kupfer in Afghanistan abzubauen. 

Sabihulla Mudschahid, der Pressesprecher der Taliban, kündigte an, daß das afghanische Volk an den Ressourcen des Landes arbeiten wolle, um den Wiederaufbau voranzutreiben. Dabei sei auch die Hilfe Chinas gern gesehen. So wolle man in Zukunft vermehrt auf chinesische Investitionen setzen. Zudem hatte Huawei angekündigt, das 5G-Netz in Afghanistan ausbauen zu wollen. 

Die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums Hua Chunying hatte bereits Mitte September erklärt, daß Peking mit den Taliban in Kontakt stehe und deren Herrschaft anerkenne. China selbst hätte laut Hua ebenfalls den Willen zu Aufbauhilfe bekundet.  

Dem schließt sich laut dem chinesischen Nachrichtenportal People’s Daily auch Geng Shuang, stellvertretender Vertreter Chinas bei den Vereinten Nationen an. Weiter führt er aus, daß aus der Zeit vom Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten 2001 bis zum Abzug 2021 gelernt werden sollte. Dies bedeute, daß die Unabhängigkeit und die Grenzen Afghanistans, ebenso wie der Wille und die Selbstbestimmung des afghanischen Volkes von ausländischen Mächten zu respektieren seien. Das willkürliche Verhängen von Sanktionen sei kontraproduktiv, so Geng. 

China hoffe, alle Fraktionen Afghanistans würden in einer neuen Regierung berücksichtigt werden. Er hoffe, daß die afghanische Regierung alle Kontakte zu Terroristen abbrechen würde. China habe immer eine freundschaftliche Politik zu Afghanistan gepflegt und beide Länder hätten sich immer unterstützt. In diesem Sinne wolle China Afghanistan bei seinen Friedensbemühungen und seinem Wiederaufbau unterstützen.

Die Hoffnung Chinas mit einer ihm zugeneigten Fraktion, welche die Macht in Afghanistan innehat, verhandeln zu können, könnte sich indes zerstreuen. Zwar wollen die Gotteskrieger kein Kalifat mit Weltherrschaftsanspruch, sondern ein Emirat, also eine islamische Staatsform mit nationalem Anspruch, was sich möglicherweise vorteilhaft auf die Stabilität Zentralasiens auswirken könnte. Der Widerstand im Pandschir-Tal konnte gebrochen werden, doch ein fortbestehender Faktor für die Instabilität des Landes ist die nach der überstürzten Flucht vieler Mitglieder der Vorgängerregierung mit Teilen der Staatskasse sowie aufgrund von Finanzblockaden einiger Staaten aufkommende nationale Finanzkrise. 

Darüber hinaus treibt der IS-Ableger Islamischer Staat in Khorasan (ISK) in Afghanistan sein Unwesen. Dieser versucht sich durch Propaganda und Anschläge, meist auf die Taliban, Geltung zu verschaffen. Die Taliban wiederum haben ihre Anstrengungen, den ISK zu bekämpfen, intensiviert. So wurden seit ihrer Machtübernahme über 30 salafistische Moscheen geschlossen. Salafistische Prediger werden verhaftet. Einige führende Köpfe des ISK, wie der Pakistaner Faruqu Bengalzai starben in Kämpfen gegen die Taliban. Immerhin ist es den Taliban gelungen, eine Übergangsregierung mit 33 Ministern, darunter 30 Paschtunen, zwei Tadschiken und ein Usbeke, zu gründen. 

Die Rechte von Frauen und Kindern müssen geschützt werden

Der Übergangs-Justizminister Abdul HakinmScharai gab eine Erklärung heraus, nach der mindestens für die Übergangsregierung die Verfassung von 1964, also aus der Zeit des Königreiches, gelte. So scheint die Lage für China derzeit günstig. Sollte es den Taliban gelingen, eine funktionierende anerkannte Regierung zu etablieren und die Kontrolle über Afghanistan aufrechtzuerhalten, sowie offene Kontakte zu ihren Nachbarländern zu pflegen, zu denen auch China zählt, das durch den Wachan-Korridor im Pamir-Gebirge mit Afghanistan verbunden ist, dann könnten die Wirtschaftsgüter des Landes, darunter Holz, Erdgas, Erdöl, Lapislazuli, Eisen, Kupfer und Textilien, Anschluß an die Neue Seidenstraße finden.

Doch der Weg ist noch weit. Entsprechend zeigte sich Wang Yi im Gespräch mit Amir Khan Muttaqi sehr besorgt über die derzeitigen Schwierigkeiten in Afghanistan, insbesondere über den möglichen Ausbruch einer humanitären Krise. In Anbetracht der wirtschaftlichen Notlage werde Peking Afghanistan weiterhin im Rahmen seiner Möglichkeiten humanitäre Hilfe leisten. Zusätzlich zu den ersten humanitären Hilfslieferungen in Höhe von umgrechnet 27 Millionen Euro, die bereits in Kabul eingetroffen sind, will China über die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften und das UN-Flüchtlingshilfswerk sowie mit den gemeinsamen Anstrengungen der chinesischen Provinzen und autonomen Regionen weitere materielle Soforthilfe für Afghanistan bereitstellen. 

Auf der zweiten Tagung der Außenminister der Nachbarländer Afghanistans am 27. Oktober unterstrich Wang Yi, daß sich Afghanistan in einer „entscheidenden Phase des Übergangs von Turbulenzen zur Ordnung“ befinde. Um diese zu erreichen, formulierte er vier Erwartungen Chinas an die Taliban: „Erstens: Aufbau einer offeneren und inklusiveren politischen Struktur, an der alle ethnischen Gruppen und Fraktionen teilnehmen und eine Rolle spielen sollten; zweitens: Umsetzung einer gemäßigten und umsichtigen Innen- und Außenpolitik, einschließlich des Schutzes der legitimen Rechte und Interessen von Frauen und Kindern; drittens: klarer Bruch mit allen terroristischen Kräften, einschließlich des Islamischen Staates und der Islamischen Bewegung Ostturkestan, und Ergreifung von Maßnahmen zu ihrer entschlossenen Bekämpfung; viertens: Verfolgung einer friedlichen Außenpolitik und Leben in Harmonie mit anderen Ländern, insbesondere mit seinen Nachbarn.“

Sobald sich die Sicherheitslage stabilisiert habe, werde China die Zusammenarbeit im Bereich des wirtschaftlichen Wiederaufbaus ausbauen und Afghanistan dabei unterstützen, seine „Vernetzungsfähigkeit mit der Region und seine Fähigkeit, eine unabhängige Entwicklung anzustreben, zu verbessern – damit Afghanistan in Zukunft seinen geographischen Vorteil als „Herz Asiens“ voll ausspielen kann, so Wang Yi.