© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

Hilfe, die Tanks sind leer
Erdölmarkt: Westliche Konzerne wollen nicht mehr in die Lagerstättenerkundung investieren
Thomas Kirchner

In der Gemeinde Cushing in Oklahoma, dem Auslieferungsort der Warenterminbörse CME für leichtes US-Rohöl, waren alle Tanks voll. Der Ölpreis fiel daher kurzfristig von 20 Dollar ins Negative. An den Tankstellen wurden für den Liter Benzin 35 Cent (USA) und 1,10 Euro (Deutschland) verlangt – die Corona-Krise brachte die Rohstoffmärkte ab April 2020 für einige Wochen durcheinander. Inzwischen werden 85 Dollar pro Barrel (159 Liter) für Öl der Sorte West Texas Intermediate (WTI) und vier Dollar pro Gallone Benzin (umgerechnet 92 Eurocent pro Liter) gefordert – das bereitet allerdings nicht nur den amerikanischen Fahrern von sechs Meter langen Pickup-Trucks mit Achtzylindermotoren Kopfzerbrechen. 

Währenddessen die Weltgemeinschaft auf dem UN-Klimagipfel (COP26) im schottischen Glasgow von Dekarbonisierung träumt, sanken inzwischen die Reserven in Cushing im Rekordtempo. Was passiert mit dem Ölpreis, wenn kommendes Jahr nicht nur die Megatanks im US-Hauptumschlagplatz für Erdöl leer sind? Springt der Ölpreis dann ins Unendliche?

Angebot und Nachfrage laufen in entgegengesetzte Richtungen

Die Nachfrage steigt und dürfte noch in diesem Jahr das Niveau von 2019 von 99,7 Millionen Barrel pro Tag überschreiten. Die Internationale Energieagentur (IEA) glaubt zwar, das Vor-Corona-Jahr wäre die Spitze des weltweiten Ölverbrauchs gewesen. Für 2022 wird mit 99,5 Millionen Barrel pro Tag gerechnet. Doch die IEA unterschätzte mehrfach die Nachfrage. Mehr als 100 Millionen Barrel sind möglich, wenn Auto- und Flugverkehr auf Vorkrisenniveau steigen. Der doppelstöckige Airbus A380 wurde bei British Airways, Singapore Airlines und Qatar Airways schon wieder reaktiviert.

Die Förderkapazitäten können mit der Ölnachfrage nicht Schritt halten. Ende 2022 droht deshalb erstmals ein echtes Förderdefizit. Die Kapazitäten sinken, insbesondere beim US-Fracking­öl. Dessen Wachstum von null auf zuletzt 7,4 Millionen Barrel pro Tag bediente 90 Prozent des Nachfrageschubs nach 2010. Doch seit der Spitze von 9,2 Millionen Barrel pro Tag Anfang 2020 ist diese Produktion rückläufig. Joe Bidens Klimapläne sehen eine Senkung von Steuervergünstigungen für die Öl- und Gasförderung vor, so daß auch konventionelle Ölförderung in den USA teuere und damit weniger werden dürfte.

Die IEA warnte seit 2017 davor, daß die geplanten globalen Investitionen nicht ausreichen würden, um die bestehende Ölförderung aufrechtzuhalten, geschweige denn eine steigende Nachfrage zu befriedigen. In diesem Jahrzehnt drohten Förderengpässe. Doch im Mai behauptet die IEA plötzlich, es seien gar keine neuen Erschließungen nötig: Ökostrom und Atomkraft könnten bis 2050 weltweit Kohle, Gas und Öl ersetzen („Net Zero by 2050 – A Roadmap for the Global Energy Sector“; JF 23/21).

Auch der Dauerbeschuß westlicher Ölkonzerne durch Klimaaktivisten sowie Anleger, die nachhaltig investieren wollen, zeigt nun erste Konsequenzen. Da die Ausbeute jedes Bohrlochs mit der Zeit sinkt, ist ein Minimum an Investitionen notwendig, allein um bestehende Fördermengen aufrechtzuhalten. Seit 2014 sind Investitionen in Öl und Gas jedoch jährlich um ein Fünftel gesunken. Bis 2030 schätzt die Investmentbank JPMorgan Chase den Investitionsbedarf um 600 Milliarden Dollar höher ein als die derzeitigen Pläne der Konzerne. Ein neues Barrel Öl zu finden kostete zwischen 2010 und 2020 im Schnitt 26 Dollar, fast doppelt soviel wie im Jahrzehnt zuvor. Künftig wird es noch teurer, die Reserven und die Förderung auf gegenwärtigem Niveau zu halten.

ExxonMobil hat drei Aktivisten im Aufsichtsrat, die den Konzern „grün“ umgestalten wollen. Andere Anleger wollen lieber Dividenden sehen als Wachstum. Viel Kapital ging verloren, als der Ölpreis 2015 und 2020 überraschend sank. Das ist ein weiterer Grund, weshalb Ölkonzerne lieber Gewinne ausschütten – ExxonMobiles Dividendenrendite beträgt 5,4 Prozent. In Den Haag wurde Shell nach einer Klage von sieben Umweltorganisationen dazu verurteilt, seine CO2-Emissionen bis 2030 um 45 Prozent zu senken. Der US-Investor Daniel Loeb forderte Shell (vier Prozent Dividendenrendite) zur Spaltung auf, um den Unternehmenswert zu maximieren – und wohl auch, um die Auswirkungen des Klimaurteils zu minimieren. Investitionen bleiben so auf der Strecke.

Machtzuwachs für die Opec+ und anhaltend hohe Rohstoffpreise

Die Frage ist, wie die nicht-westliche Organisation erdölexportierender Länder (Opec) reagiert. Im Sommer lag die Förderung der Opec+ (inklusive Rußland, Kasachstan und Mexiko) noch zehn Prozent unter den Quoten, die bis Ende 2022 fixiert sind. Schon kommendes Jahr könnten die Quoten ausgeschöpft sein. Die Macht der Opec+ wächst, wenn westliche Konzerne weniger fördern. Die Staatskonzerne können ohne Rücksicht auf Nachhaltigkeit planen. Als ihr Marktanteil zwischen 2002 und 2008 von 38 auf 43 Prozent stieg, konnte das Kartell den Ölpreis vervierfachen. US-Schieferöl rettete danach die Verbraucher. Die IEA schätzt, daß Opec 2050 über die Hälfte der globalen Ölproduktion kontrollieren wird – und das wird teuer.

 www.iea.org

 www.opec.or