© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

Heimliche Rückkehr des Atomstroms
EU-Energiepolitik: Globale Versorgungskrise ermöglicht „Greenwashing“ von Kernkraft und Erdgas
Albrecht Rothacher

Sven Giegold ist außer sich. Angela Merkel habe vorige Woche beim EU-Gipfel „den Weg frei gemacht für ein Greenwashing von Atomkraft und Gas“, erklärte der Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament. Eine Ablehnung der Taxonomie-Regelung im Rat der EU-Staats- und Regierungschefs sei „praktisch aussichtslos, da dafür eine qualifizierte Mehrheit nötig wäre“. Wenn nun Kernkraft und Erdgas in der EU als „nachhaltige Investitionen“ eingestuft werden, sei das „ein Schlag gegen die Erneuerbaren Energien“, und „staatliche Beihilfen und Steuergeld“ würden in neue AKWs und Gaskraftwerke fließen.

Doch die Gas-, Kohle-, Öl- und Strompreise sind explodiert (JF 42/21). Wladimir Putin will zwar den Gashahn wieder aufdrehen, aber das angeblich verfügbare US-Flüssiggas wird nach Ostasien umgeleitet, wo es mehr Geld bringt. Algerien hat seine Gaslieferungen nach Spanien im Oktober reduziert. Und der Winter naht. In Dunkelflauten liefern Solarpanele und Wind keinen Strom. Die „CO2-Bepreisung“ treibt die Inflation voran. Was tun, um flächendeckende Stromabschaltungen oder gar einen Blackout zu verhindern?

In Frankreich gibt es im nächsten Jahr Präsidentschaftswahlen. Emmanuel Macron will sich nicht von rechten Kandidaten wie Marine Le Pen oder Éric Zemmour aus dem Élysée-Palast vertreiben lassen. Da braucht er eine glorreiche französische EU-Präsidentschaft im nächsten Halbjahr, keinen offenen Streit mit Polen und Ungarn und erst recht keine Energiekrise. Dazu braucht es die Atomenergie. Von den 500 Terawattstunden Strom, die 2020 in Frankreich erzeugt wurden, kamen 67 Prozent aus AKWs und nur 25,4 Prozent aus „Erneuerbaren Energien, klagt das Deutsch-französische Büro für die Energiewende (DFBEW). 80 Prozent der Électricité de France (EDF), des global zweitgrößten Stromversorgers, sind in Staatsbesitz.

„Es ist verrückt, diese Technologie nicht in Erwägung zu ziehen“

Die Laufzeit der 56 französischen AKWs wurde um zehn Jahre verlängert. Trotz Baupannen sollen weitere sechs Reaktoren fertiggestellt werden. Das bringt die Klimakanzlerin Merkel, die EU und ihren „Green Deal“ ins Spiel. Sind Atom und Gas nach Brüsseler Lesart klimafreundlich? Für Giegold, den luxemburgischen Energieminister Claude Thurmes oder Ampel-Koalitionäre ist das „Greenwashing“. Doch etwa ein Dutzend EU-Staaten – darunter auch Belgien, die Niederlande (wo die Erdgasförderung bei Groningen 2026 enden soll), Schweden, Finnland und die Ostländer – halten die stabile Energiequelle Kernkraft für unverzichtbar.

Selbst in Italien, das 1987 – ein Jahr nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl – in einem Volksentscheid den Atomausstieg beschloß und 2011 – nach Fukushima – den Ausstieg erneut bestätigte, wirbt nicht nur die rechte Regierungspartei Lega für eine Atom-Renaissance. Der Physikprofessor Roberto Cingolani hofft auf AKWs der vierten Generation: Wenn sich herausstelle, daß „diese Reaktoren nur wenig radioaktiven Müll verursachen, daß die Sicherheit hoch und die Kosten pro Megawatt niedrig sind, dann ist es verrückt, diese Technologie nicht in Erwägung zu ziehen“, verkündete im September der parteilose Umweltminister im Kabinett von Mario Draghi. Brüssel würde sich dem wohl nicht entgegenstellen. Schließlich war 1957 einer der Gründungsverträge der heutigen EU der Euratom-Vertrag, der die friedliche Nutzung der Atomenergie fördern wollte.

Die Paris zugeneigte Kommissionschefin Ursula von der Leyen interessiert der Widerstand in Luxemburg oder Österreich wenig. Kernenergie wird Teil der klimafreundlichen „Taxonomie“, Erdgas gilt als „Übergangstechnologie“ – mögen die Grünen auch Zeter und Mordio schreien. Und am Montag hatten nur 51.000 von 447,7 Millionen EU-Bürgern die Petition „Super-GAU für Europas Energiewende: Stoppt das Greenwashing von Atomkraft und Gas!“ bei der Kampagnenplattform Change.org unterzeichnet.