© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

Streit um Reform der Schuldenregeln
Eurozone: Ein nicht ganz uneigennütziger Vorschlag des Rettungsfonds ESM / Kreditzugang langfristig nur über EU-Agentur?
Dirk Meyer

Die Haushaltslage vieler Eurostaaten scheint aussichtslos. Fünf Länder hatten im Oktober das Doppelte und mehr an Staatsschulden, was die Maastrichter 60-Prozent-Marke, gemessen an der jährlichen Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt/BIP), zuläßt: Spanien 119,6 Prozent; Zypern 112,2 Prozent; Portugal 127,2 Prozent; Italien 159,8 Prozent; Griechenland 208,8 Prozent. Finanzmarktkrise, Staatsschuldenkrise, Corona-Pandemie, demographischer Wandel – die Taschen der Staaten sind leer, doch Geld muß her für Digitalisierung, Umbau der Mobilität und Energieerzeugung sowie Klimaschutz.

Dabei sind die offiziellen Schuldendaten nicht die ganze Wahrheit. Während die Staatschuldenquote Deutschlands offiziell mit 73 Prozent angegeben wird, kommen 369,5 Prozent an impliziten Staatsschulden für gesetzliche Renten-, Pensions- und andere zukünftige Verpflichtungen hinzu. Auch (teil-)kreditfinanzierte Nebenhaushalte wie der geplante Infrastrukturfonds entfallen der Schuldenstatistik. Den Mitgliedstaaten werden zudem die EU-Kredite des 823 Milliarden Euro schweren EU-Wiederaufbaufonds nicht anteilig zugerechnet.

EU-Schuldenregeln coronabedingt noch bis 2023 außer Kraft gesetzt

Doch tatsächlich mangelt es den Staaten nicht an Geld – oder besser Kredit. Bislang gehen die Kapitalmärkte davon aus, daß die Eurostaaten gegenseitig füreinander einspringen werden: über den Rettungsfonds ESM, die gesamtschuldnerische Haftung aller Staaten für EU-Kredite oder die EZB als „Fiskalagent“. So können Italien für 1,1 Prozent und Griechenland für 1,3 Prozent zehnjährige Anleihen herausgeben. Die eigentliche Hürde sind die Maastricht-Kriterien, die nur einen Schuldenstand von 60 Prozent des BIP und ein jährliches Defizit von maximal drei Prozent des BIP zulassen. Bei Überschreitung sind jährliche Rückführungen vorgeschrieben und auch finanzielle Sanktionen möglich – die bislang nie vollzogen wurden.

Aufgrund der Corona-Pandemie sind die derzeit geltenden EU-Schuldenregeln noch bis 2023 außer Kraft gesetzt. Doch danach wird es eng mit Begründungen für Ausnahmen gegenüber der EU-Kommission. Deshalb hat diese vor kurzem eine Diskussion in Gang gesetzt, an dessen Ende eine Reform der Verschuldungsregeln stehen wird: voraussichtlich weniger restriktiv, einfacher zu handhaben und noch flexibler. Ein aktuelles Diskussionspapier des Rettungsfonds ESM geht in diese Richtung. Es beinhaltet drei wesentliche Änderungen: (1) die Schuldenstandsgrenze wird auf 100 Prozent erhöht; (2) neu wird eine Ausgabenregel eingeführt, nach der sich eine Ausgaben­obergrenze am Trendwachstum orientiert und (3) eine Flexibilisierung der Schuldenrückführung bei Überschreitung, für die bislang bereits 20 Jahre gewährt wurden. Zudem sollen weiterhin Ausnahmen in ökonomischen Krisenzeiten möglich bleiben. Die Autoren begründen ihren Vorschlag mit einer Anpassung an die bereits hohen Schuldenstände, die eine Rückführung illusorisch erscheinen lassen bzw. die nur unter wirtschaftlichen Verwerfungen möglich wäre. Außerdem hätten die Niedrigzinsen die Zinslast der Staatshaushalte gemindert.

Damit blenden sie einen zukünftig durchaus möglichen Anstieg der Zinsen aus. Schließlich soll das neue Konzept einfacher handhabbar sein – Ausnahmen, die die Komplexität durch fallweise Spielräume ersetzen, sollen aber möglich sein. Aus dem Englischen kommt die aus dem zielbasierten Sport abgeleitete Metapher einer „Verschiebung der Torpfosten“ – man könnte es auch als exekutive Willkür bezeichnen. Folgerichtig an diesem Vorschlag ist, daß ihm die ökonomische Fundierung genauso fehlt wie der derzeitigen Maastricht-Regel.

Zwar gilt der mathematische Zusammenhang, nach dem die 60 Prozent-Schuldengrenze bei drei Prozent Haushaltsdefizit und einer BIP-Wachstumsrate vom fünf Prozent (zwei Prozent Inflation und drei Prozent reales Wachstum) langfristig gehalten wird. Sind die Zinsen für die Staatsanleihen zudem niedriger als die Wachstumsrate, gibt es Ausgabenspielräume in Höhe dieser Differenz. Im umgekehrten Fall muß ein Teil der Zinslast durch Etateinsparungen ausgeglichen werden. Warum das zulässige Haushaltsdefizit aber genau drei Prozent und nicht 2,5 oder vier Prozent betragen sollte, ist ökonomisch nicht zu begründen, so der ehemalige Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer, der einst als deutscher Verhandlungsführer diese Regel nach französischem Vorschlag mit formulierte. Bei Einführung der 100-Prozent-Regel und einem Festhalten an einem Maximaldefizit von drei Prozent gehen die Autoren indirekt von einem BIP-Wachstum von dann nur noch drei Prozent aus (zwei Prozent Inflation, ein Prozent Wachstum).

Europäischer Währungsfonds durch die Hintertür?

Was aber, wenn die Inflation wider Erwarten mittelfristig auf Werte um die vier Prozent pendelt? Dann wäre sogar eine Defizitquote von fünf Prozent des BIP angemessen. Und wären angesichts des Auseinanderdriftens der Mitglieder der Währungsunion hinsichtlich unterschiedlicher national ermittelter Inflations- und Wachstumsraten nicht auch differenziert festzulegende nationale Defizit- und Verschuldungsgrenzen überlegenswert – die den historischen Kontext von Überschreitungen antizipativ mitberücksichtigen könnten? Schließlich belasten insolvenzgefährdete Euromitglieder die gesamte Währungsunion. Interessant bleibt die Frage, warum aus dem ESM dieser „weiche“ Vorschlag kommt. Da infolge der teils überaus hohen Schuldenstände einzelner Staaten eine Verlängerung ihrer Kredite oder gar zusätzliche Schulden am Kapitalmarkt mittelfristig ohne EU-Garantien kaum mehr möglich sein dürften, bietet sich der ESM als Schuldenagentur für zukünftige EU-Kredite (Eurobonds), aber auch als Kreditagent liquiditätsgefährdeter Eurostaaten an. Dies entspricht dem Europäischen Währungsfonds, den die EU-Kommission bereits seit 2015 mit dem „Bericht der fünf Präsidenten“ verfolgt.

Der bislang auf völkerrechtlicher und damit zwischenstaatlicher Grundlage stehende ESM würde in eine EU-Institution auf supranationaler Basis aufgewertet. Die Pointe: In einem „besonderen Verfahren der Vertragsänderung“ (Art. 126 Abs. 14) kann das „Protokoll (Nr. 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit“ als EU-Vertragsbestandteil durch eine neue EU-Verordnung mit den neuen Schuldenregeln abgelöst werden. Sekundärrecht ersetzt hier höheres Vertragsrecht. Es reicht eine qualifizierte Mehrheit im EU-Ministerrat – wohl ohne Zustimmung des Bundestages.







Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

„EU fiscal rules: reform considerations“; ESM Discussion Paper Series, 17/21: esm.europa.eu