© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

Erloschene Weltmarktführer aus Sachsen
Wirtschaftsbuch: Der Unternehmer Hermann Golle würdigt Mitteldeutschland als Wiege von Firmen, die Deutschland groß gemacht haben
Paul Leonhard

Der amerikanische Ursprung der ersten sowjetischen Autos war unverkennbar. Der bis 1956 produzierte Moskwitsch-400 war hingegen kein Ford-Nachbau, sondern praktisch der Opel Kadett von 1936. Die Produktion des Pkws in Moskau wurde nach Kriegsende von Fachleuten der Erzgebirgischen Schnittwerkzeug- und Maschinenfabrik Schwarzenberg (ESEM) und einstigen Auto-Union vorbereitet. Die benötigten Maschinen wurden unter anderem aus den BMW-Werken in Eisenach „geholt“.

Und auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland wurden in Sachsen weitere Karosseriewerkzeuge gefertigt. Die ESEM lieferte alle Großwerkzeuge für die sowjetischen und tschechischen Autotypen, später auch für die meisten DDR-Fahrzeuge. Selbst VW ließ schon vor 1989 bei ESEM produzieren. Die Firma, die 2018 als Porschebetrieb 120 Jahre Werkzeugbau in Schwarzenberg feiern konnte, ist eines der wenigen Beispiele, wo mitteldeutsche Unternehmen der Demontage entgingen, den Sozialismus überlebten und auch der Abwicklung durch die Treuhand entgingen.

Aber auch hier ist Sachsen nur eine verlängerte Werkbank der Zentrale in Stuttgart. Wertschöpfung in den neuen Ländern, aber Unternehmenssitz im Westen – das ist seit 1990 die gängige Praxis. Dabei hatte Mitteldeutschland einst die größte Industriedichte in Europa. Hier stand die Wiege Hunderter Unternehmen, die Deutschland groß gemacht haben. All das beschreibt detailreich Hermann Golle in seinem Buch „Der große Wirtschaftstransfer von Ost nach West nach 1945 – Tausende Ostbetriebe bauten den Westen wieder auf“. Und die Bestandsaufnahme nach drei Jahrzehnten deutscher Einheit ist für den 1934 geborenen Unternehmer und Inhaber mehrerer Patente („Golle-Motor“) mehr als ernüchternd: „Die ostdeutschen Bundesländer sind ab den Jahren 1945/50 verarmt und werden arm bleiben.“

Firmen wie Audi, Villeroy & Boch oder Wella stammen aus Sachsen

Auch mit Blick auf die kommende Zerschlagung der Energiewirtschaft in der Lausitz und um Leipzig, den die Politik als ökologischen Strukturwechsel verharmlost, ist dem nicht zu widersprechen. Schon mit dem Abzug der Amerikaner aus Thüringen und Westsachsen im Juli 1945 verschwanden Patente, Konstruktionsunterlagen, Materialvorräte und häufig auch die besten Erfinder und Konstrukteure, schreibt der promovierte Ingenieur für Maschinenbau und Flugzeugtechnik.

Das Vorgehen der sowjetischen Besatzungsmacht und ihrer deutschen Handlanger sorgte dann für eine weitere Massenflucht von mittelständischen Unternehmern, Ingenieuren und hochspezialisierten Facharbeitern. Ähnliches vollzog sich auch in der Tschechoslowakei und Ungarn. „In der BRD war das Wirtschaftswunder – hauptsächlich dank der vielen tausend Exilfirmen aus Mitteldeutschland, Böhmen und Schlesien – in vollem Gang, in der DDR hatte eine unvergleichlich stärkere Vernichtungs- und Enteignungswelle eine Lähmung auf allen Gebieten hervorgerufen“, konstatiert Golle.

Das Ausmaß der Vernichtung des Mittelstandes ist derart gewaltig, daß sich Golle auf Sachsen konzentriert. Weitere Bände für Thüringen und Sachsen-Anhalt sind ankündigt. Wie schon in seinem ersten Buch („Das Know-how, das aus dem Osten kam“; Hohenheim Verlag 2002) erinnert Golle an die Innovationskraft von Chemnitz, an nahezu flächendeckende „Industriedörfer“ und ein vorbildliches Straßen- und Eisenbahnnetz. Und wer weiß noch, daß Firmen wie Audi, Leifheit, Villeroy & Boch und Wella oder Verlage wie Breitkopf & Härtel, Brockhaus und Reclam ursprünglich aus Sachsen stammen?

Dabei unterteilt der Autor den Freistaat in sechs Kernbereiche: die Textilindustrie um Plauen mit mindestens 800 Firmen; den Raum Chemnitz als Zentrum des Werkzeug- und Textilmaschinenbaus; Dresden stand für die Foto-, Tabak-, Schreib-, Verpackungs- und die Gesundheitsbranche; Leipzig stand für die polygraphische, Rauchwaren- und Metallindustrie; Ostsachsen hatte Maschinen-, Waggon- und Fahrzeugbau; Aue, Schwarzenberg und Glashütte waren Zentrum der Uhrenmacherei und der Rechenmaschinen.

Tabellarisch listet der Autor allein für den Bereich Dresden 36 Firmen auf, von denen 18 seit den 1990er Jahren den Vermerk „erloschen“ tragen. Warum einzelne Firmen letztlich erfolgreich privatisiert werden konnten, andere aber scheiterten, kann der Autor, wie er zugibt, auch nicht erklären. Von einst weltweit führenden Unternehmen haben nur wenige ihre Position halten können. Für Dresden nennt Golle Mikromat, Planeta und das Sachsenwerk. Die geringe Wirtschaftskraft Sachsens lasse sich nur dadurch erklären, daß die Gewinnabführung an die neuen Stammsitze der Unternehmen im Westen erfolge, schreibt Golle.

Als Ausweg fordert der Autor den Aufbau einer Industriestruktur mit landeseigenen Firmen, eine stärkere Ansiedlung von Großunternehmen mit Bundesbeteiligung und die Vergabe von Rüstungsaufträgen an neu zu gründende Unternehmen, an denen die Länder 25 Prozent der Anteile halten: „Und so beginnen in Plauen und Magdeburg die Wartung, Reparatur, Teilefertigung von bestimmten Panzern und Fahrzeugen bis zum Neubau solcher Fahrzeuge und Systeme“, träumt Golle. „Diese Firmen könnten Neuheiten entwickeln, mit Mitteln vom Kapitalmarkt wachsen, dürfen aber nicht mehrheitlich in andere Hände und Länder gehen.“ Gleiches gelte etwa auch für die Bahntechnik. Und warum sollte nicht die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) ins Deutsche Hygienemuseum Dresden verlegt werden?

Hermann Golle: Der große Wirtschafts-Transfer von Ost nach West nach 1945. Verlag DeBehr, Radeberg 2021, broschiert, 694 Seiten, 19,95 Euro