© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

Amoklauf gegen das Erhabene
Literatur: Was uns der vor zweihundert Jahren geborene Fjodor Dostojewski heute noch zu sagen hat
Thorsten Hinz

Große Literatur ist zeitlos. Sie verbindet das Gegenwärtige mit dem Vergangenen und schließt künftige Möglichkeiten ein. Und manchmal wird ihr prophetisches Potential zur bitteren Wirklichkeit.

Der russische Autor Fjodor Dostojewski, der vor zweihundert Jahren, am 11. November 1821, in Moskau geboren wurde, zählt zu den größten Romanschriftstellern überhaupt. Als junger Mann wurde er durch die Hölle gejagt. Aus gutem Hause stammend, hatte er als Schriftsteller früh Erfolg. Er gehörte einem oppositionellen Zirkel an, wurde 1848 verhaftet und „wegen Unterlassung einer Berichterstattung über die Verbreitung eines regierungsfeindlichen Briefes des Literaten Belinski“ – eines bekannten Kritikers des zaristischen Regimes – zum Tod durch Erschießen verurteilt.

Erst als er mit dem Totenhemd bekleidet, am Hinrichtungspfahl festgebunden und das Hinrichtungskommando aufmarschiert war, teilte man ihm seine Begnadigung mit. Vier Jahre brachte er in einer Gefängnisfestung im sibirischen Omsk zu, als Sträfling der „zweiten Kategorie“, was Zwangsarbeit der schwersten Kategorie bedeutete.

In den „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ (1860) hat er die gemordete Zeit – der sich weitere vier Jahre Zwangsdienst als einfacher Soldat anschlossen – geschildert, mitsamt dem körperlichen und psychischen Sadismus, den das Aufsichtspersonal auslebte. Wer einmal die unumschränkte Macht und die absolute Möglichkeit verspürt hat, andere aufs tiefste zu demütigen, schrieb er, „der verliert notgedrungen die Herrschaft über seine Gefühle ... Blut und Macht berauschen“. Wenige Autoren haben so tief Einblick in die menschliche Seele genommen wie Dostojewski. 

Der Roman „Schuld und Sühne“ (1866) erzählt den „psychologischen Prozeß des Verbrechens“. Der bitterarme Raskolnikow tötet eine allseits verhaßte alte Wucherin in der Überzeugung, „eine Laus“ auszulöschen. Im Verlauf des Romans finden „die göttliche Wahrheit und das irdische Gesetz“ zusammen und treffen ihn mit solcher Wucht, daß er sich selber anzeigt. Viele einzelne Szenen in seinen Werken prägen sich dem Leser unverlierbar ein. Im „Idioten“ (1868) leidet er mit dem Fürsten Myschkin, dem heiligen Toren, der seine bedingungslose Güte in ekstatischen Ausbrüchen nach außen kehrt und sich gegenüber der Welt schutzlos macht. Gleichzeitig empfindet er die Peinlichkeit, die sich bei den Zuhörern Myschkins ausbreitet.

In den „Brüdern Karamasow“ (1879/80) glaubt die stolze Katerina – Dmitri Karamasows Verlobte –, ihre Konkurrentin, die leichtlebige Agrafena (Gruschenka), abwechselnd als Dummchen oder unschuldigen Engel durchschaut zu haben. Doch im Dialog der beiden verschieben die  Machtverhältnisse sich mit jedem Wortwechsel ein Stückchen mehr, und am Ende steht Katerina als beschämte Unterlegene da.

In den „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ (1864) kompensiert der namenlose Erzähler, der von den Stärkeren getreten wird, seine Schwäche, indem er eine noch Schwächere tritt. Die Figuren Dostojewskis offenbaren in einmaliger Weise die Fähigkeit des Menschen „(z)um furchtbar Schlimmen, zum furchtbar Guten“. (Anna Seghers) Entscheidend ist hier das Wort: „furchtbar“. Wer Dostojewski gelesen hat, den werden keine Pendelausschläge im menschlichen Verhalten mehr überraschen können.

Dem Siegeszug des Liberalismus im 19. Jahrhundert setzte Dostojewski in den „Karamasows“ seine Parabel vom Großinquisitor entgegen und prophezeite, daß den Menschen die Freiheit unerträglich werden würde. Sie würden sich „von neuem unterwerfen, und dann ein für allemal“, auf daß ihnen die neuen Machthaber „ein stilles, friedliches Glück gewähren: das Glück der schwachen Wesen, als die sie nun einmal geschaffen sind“.

Ähnlich sollte sich fünfzig Jahre später Professor Leo Naphta, der Dunkelmann aus Thomas Manns „Zauberberg“ (1925), äußern und damit die geballte Freiheitsrhetorik des demokratischen Schwarmgeistes Settembrini provozieren. Auf Dostojewski war Thomas Mann durch Nietzsche aufmerksam geworden. In den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) hatte er den Dostojewski-Topos von den Deutschen als „das protestierende Volk“ gegen den Geist des Westens übernommen. Hermann Hesse wiederum fand es in dem 1919 verfaßten Aufsatz „Die Brüder Karamasoff oder der Untergang Europas“ problematisch, daß der russische Epiker für die deutsche Jugend eine größere Bedeutung besaß als Goethe und sogar Nietzsche, denn Dostojewski könne zu einem völlig amoralischen Denken verführen. 

Die Gefahr, die er verspürte, ist angedeutet im Rückblick, den die 1900 geborene kommunistische Schriftstellerin Anna Seghers auf das Dostojewski-Erlebnis ihrer Generation gab: „Eine Wirklichkeit ist uns aus den Büchern gekommen, die wir im Leben noch nicht gekannt haben. Für uns war das eine erregende, eine revolutionäre Wirklichkeit. Ich spreche jetzt nicht von der politischen Revolution (…), sondern ich spreche von einem revolutionären Herauswühlen, in Bewegung gehen des menschlichen Schicksals, etwas durch und durch Unkleinbürgerliches.“

Für diese Generation bedeutete die Oktoberrevolution die politische Emanzipation eines von bürgerlichen Entfremdungen befreiten Menschentums. Als sich Jahrzehnte später die alten Kampfgefährten Lenins in den Moskauer Prozessen in absurden Selbstbezichtigungen ergingen, halfen die Sowjet-Sympathisanten im Westen sich über ihre Irritationen mit der Erklärung hinweg, es handele sich um das übersteigerte Katharsis-Bedürfnis leidenschaftlicher Dostojewski-Menschen.

Sie waren genau der Gefahr aufgesessen, vor der Dostojewski gewarnt hatte: dem Nihilismus. Eben weil der Dichter die menschlichen Abgründe besser kannte als andere, wollte er auf keinen Fall, daß sich das letztlich Furchtbare des Menschen-Möglichen mit den Energien einer politischen Revolution verbindet. Vielmehr setzte er auf eine innere, religiös grundierte Läuterung der Individuen und der Gesellschaft.

Die antizipierte Machtergreifung des Nihilismus ist die wohl wichtigste Zukunftsbotschaft Dostojewskis. Als gesellschaftspolitische Strömung machte er sich erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts  in Rußland bemerkbar. Der verlorene Krimkrieg 1853/56 hatte die Rückständigkeit des Zarenreiches drastisch offenbart. Die junge russische Opposition radikalisierte sich. Sie verachtete die liberale Vorgängergeneration, die keine Veränderungen hatte durchsetzen können. Im Roman „Väter und Söhne“ (1862) hat Iwan Turgenjew die nihilistische Ideenwelt thematisiert. „Augenblicklich ist Verneinung das Nützlichste von allem – und so verneinen wir eben“, erklärt der Wortführer Jewgeni Basarow. Man werde sich keiner Autorität beugen und kein hehres Prinzip mehr akzeptieren. Jedoch ist Basarow ein eher sanfter Charakter, der sich in Abgrenzung von der überlebten Väterwelt lediglich eine schroffe Attitüde zugelegt hat. 

Elf Jahre später arbeitete Fjodor Dostojewski im Roman „Die Dämonen“ (auch „Die Besessenen“) die weltanschauliche und psychologische Dimension des Nihilismus wesentlich tiefer heraus. In einer Provinzhauptstadt sammelt der Student Pjotr Werchowenski einen Kreis junger Leute um sich und macht sie glauben, Teil einer das ganze Land umspannenden Organisation zu sein. Seinen Vater Stepan Trofimowitsch, einen am deutschen Idealismus geschulten, aber tatenarmen, inkonsequenten, lebensuntüchtigen Schwätzer, verachtet er. Während seines Aufenthalts in Westeuropa hat er sich mit revolutionären Ideen aufmunitioniert. Werchowenski ist dem Studenten Sergei Netschajew (1847–1882) nachgebildet, ein Bakunin-Anhänger, der 1869 einen „Katechismus eines Revolutionärs“ verfaßt hatte. Darin sind in 26 Paragraphen die Ziele und Verpflichtungen der Revolutionäre festgelegt. „Unser Kampf ist die vollständige und radikale Zerstörung“, heißt es unmißverständlich. Sittlich sei alles, was der Revolution diene, einschließlich systematischer Massenhinrichtungen. Unsittlich und verbrecherisch sei hingegen, was ihren Triumph verhindere.

Auch Dostojewskis junge Dämonen schmieden Pläne für eine große Umwälzung: „Ein Zehntel  erhält Freiheit der Person und unbegrenzte Macht über die restlichen neun Zehntel. Die wiederum sollen ihre Persönlichkeit verlieren, zu einer Art Herde werden und dann, bei unbegrenzter Unterwerfung, durch eine Reihe von Neugeburten die Unschuld der Urzeit erlangen, wobei sie allerdings arbeiten müssen.“ Zu diesem Zweck sei die „Umerziehung ganzer Generationen“ nötig. Höhere Bildung sei ein „aristokratisches Verlangen“ und ebenso abzuschaffen wie Eigentum, Familie, Privatheit. Stattdessen sollen zunächst Trunkenheit, Klatsch und Denunziation die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmen. Jeder beobachtet den anderen und steht in der Pflicht, ihn nötigenfalls anzuzeigen. Die Kirchen sollen geschlossen, die Ehe und das Erbrecht abgeschafft werden. „Cicero wird die Zunge abgeschnitten, Kopernikus werden die Augen ausgestochen und Shakespeare wird gesteinigt – ...“ Und das alles im Namen einer „fanatischen Menschenliebe“. Zugleich herrscht in der Gruppe eine von aller Realität abgekoppelte unheimliche Binnendynamik, die zum Mord an einem angeblichen Verräter aus den eigenen Reihen führt.

Das liberale Establishment der Stadt, das sich um Julija Michailowna, die Gattin des Gouverneurs Andrei von Lembke, versammelt, kann die Flammenzeichen nicht deuten und weiß nicht, wie ihm geschieht. Julija Michailowna erwählt Werchowenski sogar zu ihrem engsten Vertrauten. Der Gedanke, daß ihr Schützling einen Staatsstreich planen könnte, flößt ihr romantische Empfindungen ein. Dabei ist sie entschlossen, seine Energien in die richtigen Bahnen zu lenken, während er sie manipuliert und ihre und ihres Mannes Stellung untergräbt. Es geschehen Verbrechen, und schließlich steht die halbe Stadt in Flammen.

Aus der Distanz betrachtet, handelt es sich um Einzelmotive einer „totalen Revolutionierung aller Ordnungselemente“, die auf die „umfassende Zerstörung des bisherigen Ordnungskosmos“ hinausläuft und „vom realpolitischen, rationalen Standpunkt aus unverständlich“ ist. Diese „Revolution des Nihilismus“ trägt ihren Sinn und Zweck ausschließlich in sich selbst, in ihrem „revolutionären, irrationalen Charakter“. Ohne eine zentrale „Doktrin“ zu besitzen, wird sie „in ihrer Tendenz zur Abtragung aller Ordnungselemente durch nichts bestimmt und begrenzt als den Willen, sich selbst in Bewegung und ihre ‘Elite’ an der Macht zu erhalten“. Sie bringt weder materielle noch geistig-kulturelle Wertschöpfungen hervor, vielmehr schmarotzt sie von der Substanz und zerstört sie schließlich. Ihre Protagonisten sind erfüllt von religiöser Ekstase, sozialer Rührung, Sentimentalität, Selbstmitleid und Sendungsbewußtsein und von einem speziellen Haß, der bis zur Vernichtungswut geht. Ihr Kampf richtet sich gegen den gesunden Menschenverstand, „gegen die Intelligenz und gegen die Freiheit der Wissenschaft (…).“ Er „entspringt der klaren Überlegung, daß der Geist und seine Pflege einen eigenständigen Ordnungskreis bedeutet, in dem die unzerreißbare Einheit des geschichtlichen Kontinuums des Abendlandes wirksam bleibt“. Um Erfolg zu haben, müssen die Nihilisten den Ordnungskreis diskreditieren und das Kontinuum aufsprengen.

Die Zitate sind dem Buch „Die Revolution des Nihilismus“ entnommen, das der ehemalige Danziger Senatspräsident Hermann Rauschning 1938 veröffentlichte. Rauschning analysierte den Nationalsozialismus als eine Variante zivilisatorischer Selbstzerstörung. Ein Abgleich mit der Gegenwart zeigt, daß die nihilistische Revolution sich nicht auf den Nationalsozialismus und Kommunismus – die zwei Spielarten des ideologischen Totalitarismus – beschränkt, sondern eine Möglichkeit und Gefahr der Moderne überhaupt darstellt. Die Werchowenskis unserer Tage richten ihren nihilistischen Amoklauf gegen den alten weißen Mann als die Verkörperung der abendländischen Kultur- und Geisteswelt. Es ist eine destruktive Energie, die von innen kommt und auf einen Verlust verweist: „Das Gesetz des menschlichen Daseins besteht einzig und allein darin, daß sich der Mensch immer vor dem unermeßlich Erhabenen verneigen darf. Raubt man den Menschen das unermeßlich Erhabene, sie werden nicht länger leben und in Verzweiflung sterben“, heißt es in den „Dämonen“.

Stepan Trofimowitsch, Werchowenskis Vater, läßt sich auf dem Sterbebett aus dem Lukas-Evangelium das Kapitel über die Heilung des Besessenen vorlesen, dessen böse Geister in die Schweine fahren, die sich daraufhin in einen See stürzen und ertrinken. Im Fieberwahn verkündet er, daß „all die Teufel, all der Unrat, all die Schändlichkeit“ Rußlands in die nihilistischen Zerstörer gefahren sei. Ihr Ertrinken sei „ganz recht, denn nur dazu taugen wir“.

Damit ist die Frage nach Gott aufgeworfen. Heidegger sah im Werk Dostojewskis eine letzte Chance  aufscheinen: „Im Wesen des Russentums liegen Schätze der Erwartung des Gottes verborgen, die alle Rohstofflager wesentlich übertreffen.“ Und weiter: „Müßte da nicht der deutsche Geist in seiner höchsten Kühle und Strenge ein echtes Dunkel meistern und zugleich als seinen Wurzelgrund anerkennen?“ Achtzig Jahre später wandelt Alexander Dugin – Philosoph, Zeitdiagnostiker, Geopolitiker, ein Bewunderer sowohl Dostojewskis wie Heideggers – in ganz ähnlichen Gedankengängen und Theorien. Die Abkehr von Gott, Tradition, Ethnizität oder Staat sind für ihn mehr als einzelne Fehltritte, sie markieren den zwangsläufigen Weg der westlichen Moderne ins Nichts.

Zweihundert Jahre nach der Geburt und 140 Jahre nach dem Tod Fjodor Dostojewskis wirkt seine prohetische Vorausschau zeitloser, gegenwärtiger und dramatischer denn je.

Foto: U-Bahnhof Dostojewskaja der Moskauer Metro, benannt nach dem auf einem Wandgemälde verewigten Schriftsteller Fjodor Dostojewski