© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

Flüchtige Liebesbeziehungen
Wie amerikanische TV-Serien die Utopie der neoliberalen Single-Gesellschaft propagieren
Dirk Glaser

Ausgerechnet beim Thema Liebe gerieten der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, einst „unser Lautester“ (Eckhard Henscheid), und Sigrid Löffler, sein weibliches Pendant, in einen scharf an Handgreiflichkeiten vorbeischrammenden Streit. Im „Literarischen Quartett“, ausgestrahlt am 30. Juni 2000, entzweiten sich die beiden Großkritiker derart über die Bewertung einer freizügigen Liebesszene in einem heute völlig vergessenen Roman, daß Löffler postwendend ihren Rückzug aus Deutschlands beliebtester Literatursendung verkündete – die dann nur wenige Folgen später eingestellt wurde. 

Für Jan Standke, der Literaturdidaktik an der TU Braunschweig lehrt, macht diese Episode auf einen Grundzug des Phänomens „Liebe“ aufmerksam: ihre Ambivalenz. Einerseits könne Liebe Ausdruck romantischer Gefühle, tiefer Verbundenheit, sexuellen Begehrens, zarter Zuneigung und lustvoller Ekstase sein. Andererseits setze gerade Liebe, die nicht erwidert werde, häufig Aggressionen frei, führe zu tiefen seelischen Verletzungen oder entarte sogar in körperliche Gewalt. Zumindest auf dem historischen Boden tradierter, also „heteronormativer“ Liebeskonzepte. Wie aber steht es mit der Liebe im Zeitalter der Globalisierung und der Debatten über Geschlechterordnung, Gender, alternative „polyamouröse“ Beziehungsmodelle und pluralistische Entwürfe sexueller Identität? 

Ein Schlüsselthema der Weltliteratur

Darauf versucht ein von Standke konzipiertes Themenheft der Zeitschrift Der Deutschunterricht (4/2021) Antworten zu geben, die Lehrer und Schüler an das „breite und diverse Spektrum ästhetisch-medial inszenierter Liebesarten“ heranführen sollen. Das reicht von Sondierungen zu „gefühlvollen, zärtlichen und sinnlichen Frauenbeziehungen in der Literatur der Gegenwart“, über „Sex, Macht und Gewalt“ in Romanen der jüngsten Zeit, zu „weiblicher“, genauer: lesbischer  Lyrik, der Darstellung von Sexualität in Graphic Novels für Pubertierende bis hin zu Rainer Werner Fassbinders (1974) und Hermine Huntgeburths (2009) filmischen Adaptionen von Theodor Fontanes Alterswerk „Effi Briest“ (1894), um schließlich mit einer Analyse zum „Wandel der Liebes-, Geschlechter- und Körperdiskurse in nordamerikanischen TV-Serien“ abzuschließen.

Liebe ist ein uraltes „Schlüsselthema“ der Weltliteratur, stellt Standke in seinem Einleitungsessay nicht sonderlich überraschend fest. Im 21. Jahrhundert dürfte es jedoch jetzt schon erkennbaren  „weitreichenden gesellschaftlichen Transformationen“ unterworfen sein, die dank „Migration und Digitalisierung neue Geschlechterordnungen und neue Liebessemantiken “ im Schlepptau zögen. Wie sich Liebe im Zeitalter der Digitalisierung, Stichwort „Partnerbörse“, rasant verändere, sei längst Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Die aber noch nicht signalisiert, die „Ambivalenz“ der Liebe nehme ab, so daß „diverse Geschlechterordnungen“ weniger „konfliktfrei“ funktionieren könnten als „heteronormative“.

Dekonstruktion von Sicherheiten durch US-Fernsehserien

Das Zauberwort für die am Kompaß von Gender und Diversität orientierten literarisch-medialen Vermittlungen von Liebesarten lautet für alle Beiträger: Selbstbestimmung. Das meint jedoch nicht politische, sondern ausschließlich sexuelle Selbstbestimmung im Sinne individueller Selbstverwirklichung. Der Traum der Aufklärer von einer Gesellschaft mündiger Bürger, er kann sich damit nur noch im Reservat des vermeintlich Privaten, im Bett, realisieren. Oder, wie der Foucault-Kritiker Guido Giacomo Preparata lakonisch feststellt („Die Ideologie der Tyrannei“, Berlin 2015): Wenn US-Studenten unter dem Einfluß dieses französischen Gurus der Diversität damit beginnen, sich den Kopf über das Luxusproblem zu zerbrechen, welchem von 76 Geschlechtern sie wohl angehörten, vergessen sie, über den „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt), über die Eigentums- und die  soziale Frage nachzudenken.

Elke Reinhardt-Beckers (Universität Duisburg-Essen) Sichtung von US-TV-Serien der letzten 20 Jahre zeigt denn auch, sehr gegen die Intention der genderseligen Autorin, daß „Diversität als einer der wichtigsten Leitbegriffe des 21. Jahrhunderts“ keineswegs synonym ist mit der Förderung der  „Individualität des Einzelnen“. Im Gegenteil: Es ist ein Codewort für die hyperkonformistischen Beziehungsmodelle von homo-, bi- und transsexueller Liebe vom „Typus des Multividuums“. Dieser „postindividualistische Massenmensch“ ist weitgehend bindungslos und außengeleitet, wie sich Reinhardt-Becker freut. Seine Liebe sei daher „seriell“. Ziel der Zweisamkeit sei nicht länger wechselseitige Selbst- und Persönlichkeitsbildung, sondern „Steigerung des Wohlbefindens“, kurz: „Spaß haben“.

Das wirke sich auf die Institution Schule aus. Um 1990 war es der absoluten Mehrheit der Schüler noch relativ klar, „welchem sozialen Geschlecht sie angehörte, nämlichen ihrem biologischen, und in wen sie sich zum ersten Mal verliebten, nämlich in einen gegengeschlechtlichen Partner“.

Heute würden diese vermeintlichen „Sicherheiten“ schon im Kindergarten glücklich „dekonstruiert“. Daran hätten US-amerikanische TV-Serien, die Liebe, Sexualität und Identität neu buchstabieren, erheblichen Anteil. Mit „Sex and the City“ (1998–2004) setzt diese Dekonstruktion noch ziemlich moderat ein. Die Dramaturgie der ikonischen Serie um vier New Yorker Freundinnen untergrub das konservative Ideal der „großen Liebe“ und der monogamen Ehe letztlich nicht. Nur mit der promiskuitiven Samantha und notorisch homosexuellen Nebenfiguren meldet sich bereits an, was in späteren Seifenopern zur „Seriennormalität“ wurde. 

Trotzdem dauerte es ein gutes Jahrzehnt, um „Sex and the City“ richtig spießig erscheinen zu lassen im Vergleich mit „You Me Her“ (2016–2020), einer Serie, die eine „polyamouröse Beziehung“ zwischen einem Ehepaar und einem Callgirl inszeniert. Im Kern preist diese Story zwar die Werte von Bindung, Liebe und Familie, erklärt sie aber nur für zukunftsfähig unter der Bedingung der Verabschiedung klassischer Zweierbeziehungen: „Das traditionelle Ideal wird gerettet, indem es mit neuen Elementen kombiniert wird“. Hingegen verzichtet „Girls“ (2012–2017) ganz auf solche Rettungsanker. So prekär wie dort die wirtschaftliche Lage der vier Protagonistinnen ist, die in „Jobs“, nicht in festen Stellen arbeiten, so „flüssig“ und wandelbar ist ihre Identität. Die der Serie immanente neoliberale Utopie verheißt folglich eine „diverse“ Gesellschaft atomisierter „Singles“, die keiner „symbiotischen Liebesbeziehungen oder ebensolcher Freundschaften“ mehr bedarf.

Für Reinhardt-Becker vollzieht sich die per TV-Serie propagierte Einladung zur Zerstörung hergebrachter Rollenmodelle und Sozialformen „schicksalhaft“. Wem das nützt, wer das anonyme „man“ ist, das diese Prozesse in der Kulturindustrie anstößt, wer sie finanziert und wer von ihnen profitiert, danach fragt sie nicht. Herrschaftssoziologie ist eben nicht ihre starke Seite. 

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