© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

Dorn im Auge
Christian Dorn

Das Heilige ist das Abgegrenzte“ – der Moderator der DLF-Sendung „Aus Religion und Gesellschaft“ glaubt anläßlich von Allerheiligen, daß dies beispielhaft sein Schreibtisch sei, auf dem kein einziger Notizzettel zu finden ist. Nun denn. Hauptsache der Notausgang ist frei. Und bloß keinen Filmriß! „Who wants yesterday papers, who wants yesterday girls – nobody in the world“. Der erste Titel des frühen Rolling-Stones-Albums „Between the Buttons“ wäre der passende Soundtrack bei einem Kameraschwenk über meinen Schreibtisch und die sich dort abzeichnende Topographie; inzwischen ist er zum Tagebau mutiert, seit ich mich von der Last jahrealter Ausgaben der Neuen Zürcher Zeitung trenne, deren Lektüre mir einst eine unvorstellbar haptische Weltverhaftung bedeutete – und mich damit gleichzeitig zu Hause fesselte.


Den Weg dorthin hat der Bettler vor der Supermarkt-Filiale noch vor sich. Auf seinem Schild bittet er – seit mittlerweile einem halben Jahr! – um Geld für die Heimfahrt nach Polen, wo gerade sein Bruder gestorben sei, zu dessen Beerdigung er nächste Woche fahren müsse. Darauf mein Nachbar kopfschüttelnd: „Ja, ist der wirklich so bekloppt, oder ist der so bescheuert, daß der denkt, wir selbst seien so bescheuert?“ Tage später laufe ich am Filialeingang an einer kleinen Familie vorbei, die augenscheinlich mit sich hadert. Der Junge: „Und, wie findest du den neuen Haarschnitt von Papa?“ Darauf die Frau: „Na ja, sieht aus wie Adolf Hitler.“ Darauf wieder der Junge: „Sag ich doch, voll Scheiße.“

Anas Modamani schreibt Mail um Mail – tatsächlich hatte ich mich verguckt und und zunächst „Mali“ gelesen.

Des einen Leid, des anderen Freud – auch wenn es wohl Zynismus ist. Mein Blick in den Tagesspiegel fällt auf einen Beitrag über den in Deutschland „berühmtesten“ Flüchtling Anas Modamani, dem wir durch sein Selfie mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im September 2015 zweifellos unendlich viel zu verdanken haben. Unter der Überschrift „Leben im Wartestatus“ heißt es, daß Modamani am Einbürgerungsamt verzweifelt, da dieses ihm noch immer die deutsche Staatsbürgerschaft verwehrt, obwohl er Mail um Mail schreibe. Tatsächlich hatte ich mich verguckt und zunächst „Mali“ gelesen, woraufhin ich unwillkürlich denke: „Ungeduldig fragt der Wali / Wo bleibt nur die Mail aus Mali?“ Von eigentümlicher Koinzidenz im Café des Westsektors die unaufgefordert hingestellte Schale mit Chips, und zugleich der Blick auf die Überschrift im Tagesspiel zum Thema Halbleiterindustrie: „Wir brauchen mehr Chips!“


Doch orientieren wir uns weiter am Deutschlandfunk: Dort präsentieren die Mitarbeiter des Senders ihre persönlichen Literaturempfehlungen, so unlängst auch den Science-fiction-Titel „Der Wüstenplanet“, der zu den heiligen Lektüren der „Extinction Rebellion“-Jünger zählen dürfte, wird hier doch die Öko-Diktatur gerechtfertigt. Merke: „Für Demokratie ist’s zu spät / Lies Frank Herberts ‘Der Wüstenplanet’“! Angesichts des jüngsten Klimakonzils in Glasgow beklagen die Diskutanten an Allerheiligen die Kriminalisierung von „Ende Gelände“. Auch hier gilt: „Mann von gestern, Terrorist / Stell dich vor als: Aktivist!“