© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

Was es heißt, jiddisch zu sein
Die Neue Synagoge in Görlitz öffnet in historischem Glanz, aber ist es auch ein jüdisches Gotteshaus?
Paul Leonhard

In der „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938 geschieht in der zu Preußen gehörenden Stadt Görlitz Denkwürdiges. Kaum haben Unbekannte Brandsätze in die Neue Synagoge geworfen, erscheint auch schon die städtische Feuerwehr. Und dafür, daß diese ungehindert löschen kann, sorgt Fritz Cohn, Vorsitzender des Synagogenvorstands, der in einer Villa neben dem Gotteshaus lebt. Als einzige in Sachsen bleibt die Synagoge von dem Flammen verschont; lediglich am nächsten Tag klettern ein paar SA-Männer auf das Dach und entfernen den Davidstern.

Auch wenn ein letzter jüdischer Gottesdienst noch im September 1940 stattfindet; in den Augen der Nationalsozialisten ist die Synagoge damit nicht mehr existent. Das wird am deutlichsten im Sitzungssaal des Stadtrates sichtbar, in dem ein großflächiges Gemälde die Stadtsilhouette zeigt. Das von Arno Henschel 1938 im Auftrag der Stadt ausgeführte Wandbild zeigt die mächtige evangelische Kirche St. Peter und Paul, diverse andere Kirchen, den Rathauskomplex, die wehrhaften Türme, die Landeskrone – aber keine Synagoge und den sie schmückenden Davidstern.

Tatsächlich verlieren die Görlitzer das jüdische Gotteshaus aus dem Blick. Zumindest ist das mehr als acht Jahrzehnte so und hat sich erst in diesem Jahr geändert, als das Jugendstil-Gebäude – für rund 12,6 Millionen Euro nahezu in den ursprünglichen Zustand versetzt – als „Kulturforum Görlitzer Synagoge“ im Juli neu eröffnet wird.

Görlitz hat so gut wie keine Kriegszerstörungen erlitten

„Keine versteckten Gebete mehr, keine Juden mehr, die sich in geheimen Versammlungen zusammenfinden müssen, sondern umgeben von modernen Sicherheitseinrichtungen und Schutzprotokollen“, atmet Alex Jacobowitz, Vorsitzender und Kantor der Jüdischen Gemeinde Görlitz, sichtlich auf. Das Gebäude werde nicht länger als „Ruine“, als potentielle Brache für ein Hallenschwimmbad, als Museum der Arbeiterbewegung, schlesischer Flüchtlinge oder als Lagerraum für Theaterrequisiten herhalten müssen.

Sätze, die Jacobowitz ausgangs seines soeben erschienenen Bildbandes „Die Neue Görlitzer Synagoge“ formuliert und zwar so geschickt, daß unklar bleibt, ob er damit den aktuellen Zustand beschreibt oder eine Vision. Der aus New York stammende und in Berlin lebende Musiker hat jedenfalls an beidem aktiv mitgewirkt, seit er im Jahr 2005 auf Görlitz und die ehemalige Synagoge aufmerksam gemacht wurde.

In seinem Buch zeichnet der 61jährige die Hilflosigkeit einer geistig und materiell verarmten Stadtgesellschaft nach, die nach dem Zusammenbruch zweier totalitärer Systeme zwar noch immer über eine in ihrer Gesamtheit unversehrte – Görlitz hat so gut wie keine Kriegszerstörungen erlitten, und in der DDR reichen die Finanzen weder für den Abbruch noch für die Sanierung der Altstadt aus – Architektur verfügt. Doch als die Stadtgesellschaft sich nach 1990 offen ihrer Geschichte stellen darf, wird unter jeder aufgedeckten Schicht eine neue, vergessene, sichtbar. Mit der ehemaligen Synagoge hat das insoweit zu tun, als daß sich an ihrem Beispiel die Stadtentwicklung teilweise wie in einem Brennglas widerspiegelt. Auch weil die Görlitzer (und vor allem aus dem Westen zugezogene Neubürger) erst nach der Jahrtausendwende Muße finden, das tragische Schicksal der Görlitzer Juden aufzuarbeiten.

Die Rettungsaktion von Synagogenvorstand Cohn in der Pogromnacht 1938, die Jacobowitz beschreibt, wirft ein neues Schlaglicht auf die Ereignisse in jener Nacht und auch den Stellenwert, den die Mitglieder der jüdischen Gemeinde noch mehr als fünf Jahre nach Machtantritt der Nationalsozialisten in Görlitz haben. Wer Stadtführern lauscht, hört immer die Geschichte von einem Nazi oder wahlweise SS-Mann, der der Feuerwehr das Löschen befohlen habe, um seine eigene Villa nebenan zu schützen. Daß ein Jude Cohn 1938 der Feuerwehr etwas anweisen könne und die Polizisten auf diesen hören, schien undenkbar. Niemand dachte auch darüber nach, wieso es noch im September 1940 einen jüdischen Gottesdienst gibt, warum in Görlitz noch immer ein zweites ehemaliges jüdisches Gotteshaus existiert, die „Alte Synagoge“, warum ein unversehrter jüdischer Friedhof.

Jacobowitz erinnert daran, daß sich nach Kriegsbeginn die Ideologie der Nationalsozialisten in Bezug auf Synagogen geändert hat: „Statt die jüdischen Gotteshäuser niederzubrennen, sollten jene, die die ‘Reichskristallnacht’ überlebt hatten, für andere, von der Regierung ausgewählte Funktionen umgewidmet werden.“ Während der Pogromnacht seien aktiv genutzte Synagogen ins Visier genommen worden, „ehemalige Synagogen aber blieben unangetastet“. Das betrifft Hunderte Gebäude auf deutschem Gebiet, vor allem in Hessen und Baden-Württemberg, die noch heute in eine Grauzone fallen, um die sich niemand kümmere.

Dreimal erwirbt die Stadt das Gebäude

In Görlitz wird die 1870 feierlich eingeweihte Synagoge auf der Langenstraße verkauft, um den notwendigen Grundstock für einen Neubau neben einer katholischen Kirche in der mehrheitlich protestantischen Stadt zu finanzieren. Innerhalb von zwei Jahren, von 1909 bis 1911, wird ein moderner Stahlbetonkuppelbau nach einem Entwurf des Dresdner Architektenbüros Lossow und Kühne umgesetzt, der verschiedene unterschiedliche Baustile vereint. Der Kuppelsaal ist für gut 550 Betende ausgelegt, die kleine Wochentags-Synagoge als zweiter Raum für fünfzig.

1939 erwirbt die Stadt das Gotteshaus weit unter Wert, die sowjetische Militäradministration überträgt das Gebäude 1945 kurzerhand an die jüdische Gemeinde in Dresden. Diese ist überfordert und reagiert auf die von der Stadt Görlitz geforderten Unterhaltskosten mit einem Verkaufsangebot. Die Verhandlungen ziehen sich zehn Jahre lang hin. 1963 erwirbt die Kommune das Gebäude erneut, stuft es als Kulturdenkmal ein, läßt es ansonsten verfallen. „Die außerordentliche Nachlässigkeit der Stadtverwaltung unter der DDR war für die Synagoge bei weitem zerstörerischer als die Brandschäden der Nazis“, schreibt Jacobowitz.

Ausgerechnet der erste ernsthafte Versuch, den Verfall aufzuhalten, führt 1988 um ein Haar zur völligen Zerstörung: Um die Korrosion zu stoppen, wird die Kuppel vom Turm gehoben, allerdings mit einem viel zu kleinen Kran. Als die Bauarbeiter erschreckt bemerken, daß der Kran umzukippen droht, wird die angehobene Kuppel schnell wieder auf den Turm gesetzt, aber nicht mehr verankert. In der Folge dringt noch mehr Wasser in den Turm ein und zersetzt die Struktur.

Drei Jahre später, Deutschland ist wiedervereinigt, werden Nägel mit Köpfen gemacht. Der Görlitzer Kulturbürgermeister Ulf Großmann (CDU) gründet ein Europäisches Bildungs- und Informationszentrum. Der Verein will die Synagoge retten und sie in eine Begegnungs-, Tagungs- und Ausstellungsstätte verwandeln. Ein Architekt wird beauftragt, die Sanierung zu planen. Sicherungsarbeiten beginnen. Alles scheint sich zum Guten zu wenden, bis Anwälte der „Conference on Jewish Material Claims against Germany“ Ansprüche auf das Gebäude geltend machen und vom Verwaltungsgericht Dresden recht bekommen. Der Streit führt zu einem Baustopp, der wiederum den Verfall beschleunigt.

Nach langen Verhandlungen kauft die Stadt zum dritten Mal die Synagoge. Am meisten habe ihn schockiert, daß die Rechtsanwälte nicht interessiert habe, was die Stadt für den Erhalt des Gebäudes plane, berichtete kurz vor seinem Tod Großmann: „Wenn es nach denen gegangen wäre, hätten wir das Haus auch abreißen können.“

Die Stadt und ein 2004 gegründeter Förderverein setzen gerade das Projekt einer „bespielbaren Baustelle“ um, als erneut Ansprüche auf die ehemalige Synagoge gestellt werden. Diesmal von einer aus Rumänien stammenden Jüdin, die sich als Tierärztin in Görlitz niederläßt, mit ihrer Familie eine „Jüdische Gemeinde Görlitz“ gründet. Die Stadt solle die Synagoge für symbolische 20.000 Euro an einen israelischen Geschäftsmann übereignen. Während der völlig überforderte Oberbürgermeister bereit ist, dem Druck nachzugeben, stellt sich die Kommunalaufsicht quer.

Rückblickend äußert Jacobowitz Verständnis für das Handeln des damaligen Stadtoberhauptes: „Am wichtigsten war vielleicht der Gedanke, durch den Verkauf an ‘einen Juden’ öffentliche Kritik zu vermeiden, die Synagoge nicht korrekt behandelt zu haben.“ Letztlich darf die Stadt die Synagoge nicht unter dem geschätzten Gebäudewert von 200.000 Euro verkaufen. Der Investor zieht sich beleidigt zurück, die Tierärztin mit ihrer „Gemeinde“ ebenfalls. Der hinterlassene Flurschaden ist allerdings immens, aber deutschlandweit ist jetzt 70 Jahre nach der Schicksalsnacht bekannt, daß in Görlitz ein jüdisches Gotteshaus die Pogromnacht 1938 überstanden hat.

Dank Bundes- und Landesmitteln wird das Gebäude zwischen 2013 und 2021 bautechnisch ertüchtigt und nach historischem Vorbild restauriert. Kurz vor der geplanten Eröffnung als Kulturforum brechen dann die alten Vorbehalte wieder auf, als es um ein Detail geht: Soll der Davidstern die Kuppel wieder schmücken? Damit rückt die verdrängte Diskussion um die exakte Bezeichnung wieder in den Mittelpunkt: Handelt es sich bei dem Gebäude um eine „Synagoge“ oder um eine „ehemalige Synagoge“?

Jacobowitz’ „Jüdische Gemeinde Görlitz“ ist ein Verein mit angeblich 20 bis 30 Mitgliedern, keine anerkannte Religionsgemeinschaft. Selbst in Dresden bei der jüdischen Gemeinde ist man hin und her gerissen, so sehr man sich über neues jüdisches Leben in Görlitz freuen würde. Ob es für eine vollgültige jüdische Gemeinde reicht, sei offen, wird Nora Goldenbogen, langjährige Vorsitzende des Landesverbands der jüdischen Gemeinden in Sachsen, zitiert: „Es müßten zehn jüdische Männer sein, die den Gottesdienst führen können“, in liberalen Gemeinden könnten das auch Frauen leisten.

Letztlich setzt sich die Hemdsärmeligkeit von Jacobowitz durch. Am 20. August zelebriert er in der Synagoge den ersten jüdischen Gottesdienst seit 1940. Da hat er bereits erreicht, daß die traditionelle Wochentags-Synagoge seinem Gemeindeverein für Gottesdienste und damit auch allen durchreisenden Juden zur Verfügung steht. Und er setzt durch, daß der Davidstern auf dem Kuppeldach sie künftig auf diese Möglichkeit hinweist. Die dafür benötigten 70.000 Euro haben nach seinen Angaben Gemeindemitglieder gespendet.

Jacobowitz’ Lesart, daß das gerade der Öffentlichkeit wiedergegebene Gebäude ein „Kulturforum und zumindest teilweise wieder eine Synagoge“ ist, widerspricht längst niemand mehr. Doch überflutet der städtische Kulturservice, eine städtische Tochter, die das „Kulturforum Synagoge“ betreibt, die Görlitzer mit Lesungen und Konzerten in dem Gebäude, ganz so als habe man Angst, Jacobowitz einen einzigen freien Termin für einen einzigen Gottesdienst außerhalb der Wochentags-Synagoge freizuhalten. Dabei will dieser doch bloß „erklären, was es heißt, jiddisch zu sein“.