© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

Wenn die Erinnerung an sozialistische Unterdrückung und Enteignung verblaßt
Rückkehr des Kollektivdenkens
Birgit Kelle

Je weiter die zeitliche Distanz zu einem real existierenden Sozialismus im Bewußtsein und der Erinnerung, um so attraktiver und romantisch verklärter wird er gerade für die junge Generation. Man muß es nur anders benennen. Wer nie unter den Bedingungen des Sozialismus leben mußte, kann ihn mit Verve herbeisehnen. Hauptsache, man hat noch ein iPhone und kostenloses WLAN für alle.

Die Problematik im gesellschaftlichen Diskurs ist sogar noch größer, weil Sozialismus heute gern nur auf einer wirtschaftlichen und ökonomischen Ebene als Gegensatz zum Kapitalismus diskutiert wird, aber viel weniger als eine Dialektik zwischen Sozialismus und Familie, Sozialismus und Freiheit oder Sozialismus und Autonomie des Menschen.

Die Rückkehr zum Kollektivdenken war ein entscheidender erster Schritt, um sozialistisches Gedankengut wieder salonfähig zu machen. Die gesellschaftspolitische Steuerung, die das Kollektiv gegen das Individuum in Stellung bringt, wird wieder als Verheißung oder gar als moralische Verpflichtung in einer ganz neuen Geschichte erzählt. Faktisch haben wir es mit einem Rückfall vor die Implementierung universaler Menschenrechte zu tun, auch wenn ständig und von immer neuen „Menschenrechten“ im gesellschaftspolitischen Diskurs die Rede ist.

Sexuelle Rechte. Kinderrechte. Frauenrechte: Sie alle haben gemeinsam, was wir heute in einer überbordenden Identitätspolitik bereits zu spüren bekommen: Wir reden zwar von individueller Vielfalt, diese wird aber durch die Zugehörigkeit zur vermeintlich richtigen Gruppe erst verwirklicht – oder auch verwirkt. Die Gruppe der „alten weißen Männer“ ist dabei der Verlierer der Stunde. Jene mit exotischen Hautfarben oder sexuellen Präferenzen hingegen Gewinner des Zeitgeistes. Man muß wieder zur richtigen Gruppe gehören, um oben mitspielen zu dürfen. Manche sind eben doch gleicher unter Gleichen.

Erstaunlich ist in diesem neuen Denken, daß die Familie als eigenständiges Kollektiv nicht zählt, obwohl es sich doch als natürlich gewachsenes Kollektiv einer Großfamilie nahezu aufdrängt. Mehr noch: Ausgerechnet die kleinste soziale Einheit der Menschheit, die eigene Familie über mehrere Generationen hinweg, wird als größtes Hindernis des Fortschritts definiert. Entsprechend muß sie im Sozialismus dekonstruiert werden – ein hübscheres Wort als „zerstören“.

Familienpolitik konzentriert sich entsprechend nicht mehr auf die Förderung der Einheit Familie, sondern indem man die einzelnen Mitglieder herausgreift oder auch gegeneinander ausspielt: Frauen gegen Männer, Kinder gegen die eigenen Eltern, die Jungen gegen die Alten.

Als Beispiel ist hier etwa die „Kinderarmut“ kurz zu betrachten, die wir jedes Jahr vorgesetzt bekommen. Ein cleverer Kunstbegriff, denn sie existiert faktisch nicht. Es gibt nur Elternarmut oder Familienarmut. Kinder leben ja nicht auf Bäumen, sondern in ihrer Familie vom Familieneinkommen der Eltern. Betrachtet man Kinder allein, wären sie nahezu zu 100 Prozent arm, weil ohne Einkommen oder eigenes Vermögen.

Wir bekämpfen aber nicht Familienarmut oder Elternarmut, sondern Kinderarmut. Alle Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung werden entsprechend nicht im Zusammenhang mit den Eltern formuliert. Wir reden dann über kostenloses Essen in der Ganztagsschule, flächendeckende Fremdbetreuung als Familienersatz, Bildungs- und Freizeitgutscheine usw. Die ökonomische Umverteilung soll die Kinder unabhängig und im Zweifel auch gegen den Willen der Eltern durch den omnipräsenten Nannystaat erreichen.

Das, was heute als vermeintlich „moderne“ Familienpolitik präsentiert wird, ist also teilweise eine Eins-zu-eins-Übertragung realer sozialistischer Familienpolitik ins 21. Jahrhundert.

Erinnert sich noch jemand an den Bundestagswahlkampf der SPD aus dem Jahr 2013? Der zentrale Slogan war damals „Das Wir entscheidet“. Es sollte ein warmes Gefühl eines gemeinsamen Wir erzeugen, in dem niemand vergessen wird. 

Entscheidend ist bei all dem Wir: Es ist ein staatlich organisiertes, staatlich favorisiertes, staatlich definiertes und staatlich durchgesetztes Wir. Doch wo das Wir entscheidet, hat das Ich nichts mehr zu melden. Dieses Wir war nie eine Verheißung, sondern schon immer eine Drohung.

Im Ergebnis bedeutet Sozialismus nicht nur finanziell, sondern auch menschlich eine Enteignung auf allen Ebenen. Wer nichts Eigenes besitzen darf, besitzt sich auch selbst nicht mehr. Und ist das nicht das neue Narrativ: Wir sollen nicht an uns denken, sondern an die Gemeinschaft? Es setzt sogar eine Kettenreaktion auf die nächste Generation in Gang: Wer kein Eigentum haben darf, ist nicht frei, kann sein eigenes Überleben nicht eigenständig absichern. Doch wer die Hoheit über sich selbst nicht besitzt, hat sie schon gar nicht über Dritte, auch nicht über die selbst gezeugten Kinder.

Im Moment verlieren wir gar die Verfügung über unseren eigenen Körper. Wir sollen uns medizinisch behandeln lassen nicht vorrangig zum eigenen, sondern zum Wohl der Mitmenschen. Aus Solidarität und für das Kollektiv. Wer nicht mitzieht, ist potentieller Gefährder.

In zahlreichen Ländern ist selbst Organspende bereits zur moralischen und gesetzlichen Pflicht erhoben worden. Man muß begründen, warum man nicht Organspender sein will. Das Kollektiv beansprucht sogar unsere Einzelteile. Die Ausbeutung des Menschen als verwertbarer Organismus macht nicht einmal am Tod des Menschen Halt.

Hier wiederum paart sich der Sozialismus mit dem Utilitarismus. Menschen-Würde wird durch Menschen-Nutzen ersetzt. Hieß es früher noch: Die Würde des Menschen ist unantastbar, heißt es heute eher: Der Nutzen des Menschen ist unbegrenzt. In den Straflagern der Rotchinesen wird das mit Systemfeinden bis heute praktiziert.

Die Gendertheorie als vermeintliche Lösung in der Familien- und Geschlechterpolitik ist dabei nur ein effizienter Schrittmacher bei der Entkernung von Gewißheiten, Normalitäten und Ereignissen. Multikulturell, multinational, geschlechtslos und jetzt auch noch sprachlos soll er sein, der neue Mensch. Nicht mehr verwurzelt in Familie, Nation, Kultur, Sprachraum und Geschlecht, sondern aufgelöst in globalisierten, grenzenlosen, geschlechts- und gesichtslosen Zweckbündnissen auf Zeit. Verordneter Identitätsverlust im Namen der Emanzipation des Individuums.

Die Zahl der Menschen, die von Sozialleistungen des Staates abhängig gemacht werden, steigt täglich. Die Einkommenssituation von Familien hat sich in der Nachkriegsgeschichte rasant verändert. Ihre wirtschaftliche, aber auch geistige Autonomie wird dadurch nachhaltig geschädigt. Früher reichte die 40-Stunden-Woche eines einzelnen (des Vaters), um eine Familie mit zwei Kindern zu ernähren und ein Reihenhäuschen abzuzahlen. Heute reichen oft zwei Gehälter nicht dazu aus. Das Modell mit dem hübschen Namen „partnerschaftlich“ (sprich beide arbeiten 30 Stunden in der Woche) erfordert zwingend einen Kita-Ganztagsplatz, später Ganztagsschule für die Kinder. Damit wird die Illusion von Familie an den Randzeiten des Tages noch eine Weile aufrechterhalten, gleichzeitig wird das Abhängigkeitsverhältnis gefestigt: Ohne staatliche Betreuung ist Erwerbsarbeit nicht organisierbar, nur ein Gehalt bedeutet Armutsrisiko. Die Abhängigkeit von staatlichen Zuwendungen oder staatlich bezahlter Kinderbetreuung erkauft Gehorsam im Handeln.

Sozialismus? Wer kann das noch erklären. Eine Linke in den Parlamenten, die ein Nostalgiebild zwischen Spreewaldgurke und Rotkäppchensekt bedient, das nie existiert hat? Je weiter entfernt vom real existierenden Sozialismus, um so weniger Menschen können das geraderücken.

Und so erleben wir eine junge Generation, die einen Sozialismus herbeisehnt, unter dessen realen Bedingungen sie noch nie leben mußte. Die Generation Ahnungslos ist übersättigt und unausgelastet. Hypersensible Wohlstandskinder, die noch aus der warmen Stube des „Hotel Mama“ heraus die Generation ihrer Eltern als Kapitalisten, Rassisten, Patriarchen und Klimasünder beschimpfen dürfen, ohne dafür wenigstens das Taschengeld gekürzt zu bekommen. Freiheit, Wohlstand, Frieden und Sicherheit, aber auch universale Menschenrechte kennen die Kinder des neuen Millenniums in der Regel nur als garantierte Selbstverständlichkeit, aber nicht mehr aus der Perspektive der Entbehrung oder des Verlustes.

„Wann beginnt die Erziehung eines Kindes?“, wurde der jüdische Philosoph Martin Buber einst gefragt. Seine Antwort war: „60 Jahre vor seiner Geburt.“ Er wollte ausdrücken, daß die Frage, was uns in die DNS geschrieben wird, mindestens zwei Generationen vorher schon begann. Abstammung läßt sich nicht einfach abschütteln. Es sitzt uns in den Knochen, was unsere Großeltern an unsere Eltern an familiärem Erfahrungsschatz weiterreichen, und das sind dann die Menschen, die uns selbst großziehen.

Aus dieser Perspektive stirbt die Erfahrung einer Kriegsgeneration, aber auch die des Kalten Krieges gerade aus. Ich bin Jahrgang 1975, meine Großeltern haben noch den Zweiten Weltkrieg, russische Gefangenschaft, Hunger und danach ein Leben hinter dem Eisernen Vorhang erlebt. Dem Kommunismus konnte meine Familie deswegen nichts Romantisches abgewinnen, weil man die Mängel der Planwirtschaft täglich am eigenen Leib zu spüren bekam und auch nicht ausreisen durfte. Als man meine Familie und auch mich selbst in den frühen 1980er Jahren endlich in den freien Westen gehen ließ, durften wir die Enteignung des Familienbesitzes zum Wohl des Kollektivs noch live erleben.

Je mehr Generationen vergehen, um so mehr verblaßt das Erkennen, wenn Geschichte droht, sich zu wiederholen. Die Gnade der späten Geburt trägt in der jungen Generation leider auch dazu bei, totalitären Mechanismen mit Naivität zu begegnen, während jene, die es noch leidvoll selbst erfahren haben, wie etwa die Bürgerrechtler aus der ehemaligen DDR, sich neuerdings von unheilvollen Déjà-vu-Erlebnissen umringt sehen, wenn sie von ihrem Bürgerrecht auf Meinungsfreiheit Gebrauch machen.

Wenn Freiheit, Wohlstand und Frieden zur Selbstverständlichkeit werden, verkümmern die Sensoren für die Vorboten des Freiheitsverlustes. Und wenn Familie die Erinnerung nicht an die nächste Generation weiterreicht, weil der Staat zum Erzieher und Bilder der nächsten Generation mutiert ist, wer soll ihnen dann noch die Wahrheit erzählen?

„Die Freiheit ist nie mehr als eine Generation von ihrer Auslöschung entfernt“, sagte einmal der amerikanische Präsident Ronald Reagan in einer Rede zum Unabhängigkeitstag der Vereinigten Staaten: „Unsere Kinder haben sie nicht von uns im Blut. Sie muß erkämpft, geschützt und an sie weitergegeben werden, damit auch sie dasselbe tun können. Sonst werden wir eines Tages unseren Lebensabend damit verbringen, unseren Kindern und Enkeln zu erzählen, wie es einmal war, als die Menschen frei waren.“

Er sprach diese Worte, als es noch den Kalten Krieg gab, der kommunistische Feind im Ostblock saß und das Weltbild damit klar einteilbar war in Gut und Böse. Den Eisernen Vorhang der Russen hat man zu Fall gebracht, versagt hat der Westen aber offensichtlich darin, das Erbe der Freiheit zuverlässig an die nächsten Generationen weiterzureichen.






Birgit Kelle, Jahrgang 1975, publiziert als freie Journalistin für verschiedene Druck- und Onlinemedien im deutschsprachigen Raum. Die Mutter von vier Kindern ist Autorin vieler Bestseller wie etwa den Feminismus- und Gender-Kritiken „Gendergaga“ und „Noch normal?“ oder der Streitschrift „Muttertier“. Soeben erschien ihr Buch „Camino“.

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Foto: Ideologische Dressur schon von Erstkläßlern in einem Pionierlager in Ost-Berlin, Oktober 1971: Wenn Freiheit, Wohlstand und Frieden zur Selbstverständlichkeit werden, verkümmern die Sensoren für die heutigen Vorboten des Freiheitsverlustes