© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

Zwischen sozialistischen Welten
Der katholische Nationalrevolutionär Emil Franzel in den Reihen der sudetendeutschen Sozialdemokratie und seine antimarxistische Kritik des Nationalsozialismus
Wolfram Ender

Der böhmische Journalist, Publizist und spätere Vertriebenenfunktionär Emil Franzel war eine schillernde politische Persönlichkeit. Der sudetendeutsche Sozialdemokrat, der den Nationalsozialismus zuerst ablehnte, aber einen national orientierten Sozialismus vertrat und nach der Eingliederung des Sudetenlandes nach der Münchner Konferenz 1938 und der Besetzung Prags 1939 sich zeitweise sogar dem NS-Regime anpaßte, nimmt unter den katholischen Kritikern der „braunen Jakobiner“ eine Sonderstellung ein.

Emil Franzel, 1901 in Haan in Böhmen als Sohn eines Volksschullehrers geboren, studierte Geschichte, Germanistik, Philosophie und Soziologie in Wien und München und schloß sein Studium in Prag mit der Promotion ab. Er gehörte der Freideutschen Jugend an. Seit 1925 arbeitete er als Parteifunktionär in der Führung der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik (DSAP). In der Zentralstelle für Bildungswesen leitete er das Parteibildungswesen. Als er diesen Posten wegen seiner Opposition zur Parteiführung verlor, wurde er außenpolitischer Redakteur des Sozialdemokrat. Franzel verfaßte 1934/35 auch Beiträge für den Kampf, das Organ der vor dem Dollfuß-Regime in die Tschechoslowakei geflohenen österreichischen Sozialdemokraten. 

Seit Ende der zwanziger Jahre neigte Franzel in klarem Gegensatz zu dem marxistisch eingestellten DSAP-Vorsitzenden Ludwig Czech, der auch Mitglied der tschechoslowakischen Regierung war, Ideen eines konservativ-antimarxistischen „Volkssozialismus“ zu. Damit fand Franzel die Unterstützung von Wenzel Jaksch, der 1935 stellvertretender Vorsitzender, nach Hitlers Einmarsch in Österreich im März 1938 Vorsitzender der DSAP wurde. Beide wollten mit der stärkeren Betonung der nationalen Komponente in der sozialdemokratischen Politik den wachsenden Einfluß der NS-Bewegung und der Sudetendeutschen Partei (SdP) Konrad Henleins, die bei den Maiwahlen 1935 mit zwei Drittel der deutschen Stimmen stärkste Partei im Staat geworden war, auf die Sudetendeutschen eindämmen. 1934 knüpfte Franzel mit Billigung von Jaksch Kontakte zu konservativen Hitlergegnern in Österreich: zu der von dem Philosophen Dietrich von Hildebrand herausgegebenen Wiener Zeitschrift Der christliche Ständestaat, zu dem Soziologen und konservativen Sozialisten Ernst Karl Winter, zur „Vaterländischen Front“ des österreichischen Kanzlers Schuschnigg, zu österreichischen Monarchisten. Durch Franzels Vermittlung freundete sich Jaksch mit dem abtrünnigen Nationalsozialisten Otto Strasser an, der damals in Prag im Exil lebte. In enger Absprache mit Jaksch verfaßte Franzel 1936 sein theoretisches Hauptwerk „Abendländische Revolution“. 

Nachdem Franzel wegen seiner Teilnahme an dem Begräbnis eines SdP-Funktionärs ein Parteiausschluß drohte, trat er Ende 1937 selbst aus der DSAP aus. Die Partei verschaffte ihm dennoch die Stelle des Direktors des Prager Volksbildungsvereins „Urania“ und Schriftleiters der gleichnamigen Zeitschrift. Franzel trat aber bald danach in die SdP ein, und seit November 1938 lassen eindeutige Äußerungen Franzels auf seine Hinwendung zum Nationalsozialismus schließen. Dies bewahrte Franzel aber nicht davor, am 15. März 1939, dem Tag des Einmarsches der Wehrmacht in die „Rest-Tschechei, in Prag“ von der Gestapo verhaftet und drei Tage lang vor allem über seine Beziehungen zu Otto Strasser und seine Mitarbeit am „Ständestaat“ verhört zu werden. Franzel wurde als Direktor der „Urania“ fristlos entlassen. Danach arbeitete er als Biblio­thekar im Landesmuseum Prag. Seit 1941 leistete er Wehrdienst bei der Schutzpolizei, 1945 folgten Verwundung und Gefangenschaft.

1946 gelangte er nach Bayern, wo er anfangs als Lehrer tätig war. Hier zählte Franzel zu den ersten, die sich um eine organisatorische Erfassung der vertriebenen Sudetendeutschen bemühten. Er arbeitete in der Ackermann-Gemeinde mit und war 1949 Mitautor der von einer Gruppe Sudetendeut­scher verfaßten „Eichstätter Erklärung“, die den Verzicht auf Rachegedanken verkündete und die Lösung des sudetendeutschen Problems im Rahmen einer gesamteuropäischen Politik anstrebte.Franzel machte sich zudem bald als katholischer Publizist einen Namen. Er wurde 1948 Chefredakteur der Augsburger Tagespost und der Zeitschrift Neues Abendland, außerdem war er Mitarbeiter der Deutschen Tagespost und Kommentator des Bayerischen Rundfunks. Seit 1949 war er Bibliothekar in der Bayerischen Staatsbibliothek in München und übte von 1952 bis zu seiner Pensionierung das vom Kultusministerium verliehene Amt eines Ministerialbeauftragten für das Volksbüchereiwesen in Bayern aus. Franzels Nachkriegsveröffentlichungen umfassen historische Werke vor allem zur Geschichte Habsburgs und des Donauraums, aber auch Gesamtdarstellungen zur Zeitgeschichte, zur deutschen und sudetendeutschen Geschichte. Unter dem Pseudonym Carl von Boeheim hat er eine Reihe von politisch-historischen Romanen verfaßt, die vornehmlich im böhmischen Raum spielen. Franzel starb im Juni 1976 in München.

Gegen westliche „bürgerliche Welt“ und „plebejische Revolutionen“

Für Franzels konservativ-antiliberalen Antikapitalismus ist das 1936 erschienene Buch „Abendländische Revolution“ charakteristisch, in dem er aus seiner Nähe zu Otto Strasser keinen Hehl macht. Sein Hauptfeind ist die „bürgerliche Welt“ des 19. Jahrhunderts, die die Epoche des neuzeitlichen Zerfalls des Abendlandes seit dem Mittelalter beende. Demgemäß gilt ihm der Nationalsozialismus mit seiner Massenpropaganda als Produkt der Verwestlichung und „Amerikanisierung“, die mit der amerikanischen und der Französischen Revolution eingesetzt habe. Der Faschismus sei kein Überwinder des Liberalismus, sondern „Universalerbe und Konkursverwalter des 19. Jahrhunderts (...) in allen Farben liberaler Verwesung schillernd“. Franzel wirft dem Nationalsozialismus vor, er habe als „verbürgerlichte Massenbewegung konservative Wurzeln eines nationalen deutschen Sozialismus europäischer Gesinnung“ verschüttet. Lob erhalten auch der Schriftsteller Arthur Moeller van den Bruck und die Zeitschrift Die Tat, weil sie gegen Amerika und für eine Orientierung Deutschlands nach Osten eingetreten seien. Franzels Ziel war ein „europäischer Sozialismus“ unter deutscher Führung und orientiert an der mittelalterlichen Ständeordnung. Es geht ihm um eine „konservativ gerichtete‘‘, um eine „zum Ursprung zurückstrebende“ Revolution, die als Erscheinung des 20. Jahrhunderts im Gegensatz zum „liberalen Sozialismus“ des 19. Jahrhunderts stehe. 

In Franzels Nachkriegsveröffentlichungen tritt die sozialistische Komponente seines Denkens klar zurück hinter der nun stark hervorgekehrten konservativen und nationalen. Franzel entwickelt sich zu einem energischen Fürsprecher der Adenauerschen Politik und zu einem ebenso energischen Gegner der SPD. So ordnet er in einer Wahlkampfbroschüre des Jahres 1953 über die „Katastrophenpolitik“ der „N-SPD“ den Nationalsozialismus in das Spektrum der politischen Linken ein, um aufgrund dieser Annahme auf angebliche Kontinuitäten zwischen nationalsozialistischer und sozialdemokratischer Politik unter dem SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher hinzuweisen. 

Später wiederholt er seine Ansicht von nationalsozialistischen Traditionen in der Nachkriegs-SPD im geschichtlichen Überblick „Von Bismarck zu Adenauer“. Mit Kapitelüberschriften wie „Von der plebiszitären Demokratie zur plebiszitären Tyrannis“ und der Bezeichnung des Nationalsozialismus als „plebejische Revolution“ macht Franzel deutlich, daß er den Nationalsozialismus als linkes Phänomen einstuft. Diese Einschätzung prägt auch Franzels grundlegende Monographie über den Nationalsozialismus „Das Reich der braunen Jakobiner“, in der er Nationalsozialismus und Bolschewismus als revolutionäre Bewegungen und weltliche Heilslehren auf die Zerstörung des christlichen Glaubens im Gefolge der Aufklärung und der Französischen Revolution zurückführt.

Foto: Abweichende Gleise zur Rechten und zur Linken, Passant auf dem Prager Wenzelsplatz, um 1935: „Konkursverwalter des 19. Jahrhunderts in allen Farben liberaler Verwesung schillernd“