© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

Prophet der nahen Apokalypse
Ralph Ghadban analysiert die frühe Überlieferung des Islam und gibt Hinweise auf Fälschungen
Marcel Waschek

Als sich im Januar 2011 mehrere tausend Menschen auf dem Tahrir-Platz in Kairo versammelten, schien es, als stehe eine neue Epoche bevor. Überall in der arabischen Welt gingen Menschen auf die Straße und demonstrierten gegen die bestehenden autokratischen Regime. Mit Ausnahme von Tunesien und Marokko handelte es sich letztlich um gescheiterte Revolutionen, die lediglich die Köpfe der vorherigen Herrschaft austauschten. Erben dieser Entwicklung sind blutige Bürgerkriege in Syrien, dem Jemen, dem Irak und Libyen, sowie eine große unzufriedene Masse junger, im Verhältnis zu ihrer Elterngeneration überaus gut ausgebildeter Menschen, die immer häufiger Kritik am Islam äußern. Viele stellen die Hadithen, die Überlieferungen über das Leben und Wirken des Propheten, in Frage. Äußerst regressive, nicht selten durch salafistische Strömungen geprägte und auf die Sunna gestützte Vorstellungen werden immer mehr hinterfragt oder gar gänzlich abgelehnt.

Der gebürtige Libanese Ralph Ghadban, der als Islamwissenschaftler ein anerkannter Kenner des Clan-Milieus (Arabische Clans. Die unterschätzte Gefahr, Berlin 2019) und der Migration ist, behandelt in seinem aktuellen Buch „Allahs mutige Kritiker“ die teils stark von der überlieferten Tradition abweichende Herkunft und Geschichte des Islams sowie die seit dem Tod Mohammeds geäußerte, überaus breit gefächerte Kritik an der Religion. Einen Schwerpunkt setzt Ghadban mit der aktuellen Religionskritik, der ein ganzes ausschließlich aus Quellen bestehendes Kapitel gewidmet ist. Die Kulturgeschichte des Islams, von der Entstehung aus meist monotheistischen, an das Christentum und den jüdischen Glauben angelehnten Glaubensvorstellungen, über die ersten Kalifate bis hin in die dschihadistischen Bewegungen der Gegenwart nimmt den Großteil des Werkes ein. 

Ausführlich werden die Ausgangsbedingungen der westlichen Arabischen Halbinsel zur Zeit Mohammeds im 7. Jahrhunderts behandelt. Die Bewohner jener Region waren, im Gegensatz zum Bild, das der Islam von ihnen zeichnet, laut Ghadban keineswegs Anbeter von Naturreligionen, sondern hatten bereits ein christlich-jüdisch geprägtes Gottesbild, wie sich auch archäologisch beweisen ließe. Mohammed selbst habe sich wohl weniger als Gründer einer neuen Religion denn als Prophet der nahen Apokalypse verstanden. 

Nachfolger Mohammeds paßten Koran der politischen Agenda an

Diese apokalyptische Vorstellungswelt zusammen mit den vorherrschenden Stammesregeln habe eine besondere Form der Frömmigkeit und der Religionsausübung geschaffen und dazu beigetragen, daß Mohammed und seine Anhänger in verhältnismäßig kurzer Zeit große Gebiete unter ihre Kontrolle bringen konnten. Der Prophet hatte, möglicherweise in Erwartung des baldigen Weltuntergangs, keinen Nachfolger ernannt. Abu Bakr, einer seiner Weggefährten, trat als Kalif die Nachfolge an, ein Amt mit Weltherrscheranspruch. Er und die folgenden Kalifen hätten, auch um den eigenen Machterhalt abzusichern, den Koran so geändert, daß er in ihre politische Agenda paßte. Kalif Osman ließ gar eine einheitliche Version, die heute noch genutzt wird, herausbringen und alle anderen vernichten. 

Die Sammlung der Hadithen, also die Überlieferungen dessen, was Mohammed angeblich gesagt und getan habe, wurde neben der Sunna, den vorherrschenden Stammesregeln, ein wichtiger Teil des Islams. Obwohl Mohammed zu Lebzeiten darauf verwiesen haben soll, daß der Koran und nicht seine eigenen Zitate als Wort Gottes anzusehen seien und daher seine Zitate nicht aufgeschrieben werden dürften, interessierte das seine Nachfolger wohl kaum. Die Befürchtung, einige Hadithen könnten Fälschungen sein, kam zudem schnell auf. 

Ghadban geht so weit, den politischen Fraktionen in innerislamischen Auseinandersetzungen absichtliche Fälschung einer großen Anzahl von Hadithen anzulasten. Die Neuordnungen des Korans und die Bildung der Fiqh, der Wissenschaft der Scharia, dem islamischen Recht aus Koran und Sunna, sowie der Idschma, des Konsens der Rechtsgelehrten, haben ganz klare politische Ziele verfolgt. Die eigentliche Auseinandersetzung zu Mohammeds Zeit habe zwischen verschiedenen christlichen und anderen monotheistischen Glaubensgemeinschaften des Orients und der hellenistisch geprägten byzantinischen Kirche bestanden. Aus diesen sei zu großen Teilen die religiöse Identität der Bewohner der Arabischen Halbinsel bis in die Persis gebildet worden, doch die islamische Identität habe dies überlagert. 

Aus der eigentlich in Erwartung des nahenden Endes losgebrochenen Bewegung mit eigenem Reich wurde eine feste Religion mit Großmachtanspruch. Die Auseinandersetzung der Gläubigen mit dem Islam sei mangelhaft. Denn das reine Befolgen der Glaubensregeln sei wichtiger Bestandteil der Religion. Eine historische Situation, die eine solche Auseinandersetzung notwendig gemacht hätte, habe im Gegensatz zum Christentum gefehlt. Derartige Ansätze seien später immer wieder unterdrückt worden. Ghadban äußert die Hoffnung, daß sich dies, nicht zuletzt durch den arabischen Frühling, gegenwärtig ändern könnte.

Daß der Autor ausschließlich innerislamische Kritiker zu Wort kommen läßt, ist keinesfalls eintönig, da die dargestellten Positionen sehr vielfältig sind. Die Genese des Islams, die in dem Buch gezeichnet wird, ist für sich selbst kulturhistorisch überaus wertvoll. Die Geschichte des Islams, besonders die Gründungsphase, ist fesselnd dargestellt. Alles in allem ist Ghadbans Werk faszinierend und lehrreich, nicht nur für Muslime, sondern auch für deren Kritiker.

Ralph Ghadban: Allahs mutige Kritiker. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2021, gebunden, 318 Seiten, 22 Euro

Foto: Doppelseite aus einer Hadithen-Sammlung Muhazi al-Muwattas von 1408: Oft gefälschte Überlieferungen zum Leben Mohammeds