© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/21 / 12. November 2021

„Eine Vertreibung aus der Welt“
Gegen „Haß und Ausgrenzung“ ist die Devise der Zeit: Doch eben darunter hat die Kriegsgeneration heute zu leiden, mahnt Joachim Scholz, einer ihrer letzten Überlebenden
Moritz Schwarz

Herr Scholz, nehmen Sie noch an der Tagespolitik teil?

Joachim Scholz: Sehr intensiv sogar. Denn da geht es um eines der letzten Dinge, die noch wertvoll für mich sind, nämlich was aus unserem Land wird. 

Ist man mit 97 nicht ganz mit sich selbst beschäftigt?

Scholz: Die Gesundheit nimmt in der Tat täglich großen Raum ein, dazu höre ich auch wirklich sehr schlecht. Und nur aufzustehen, um mir von meinem Schreibtisch die Zeitung zu holen, ist ein gewisser Kraftakt! Dennoch liegt mir die Zukunft unserer jungen Leute am Herzen, auch wenn ich weiß, daß ich selbst diese nicht mehr lange erleben werde. 

Dann haben Sie auch die Bundestagswahl verfolgt? 

Scholz: Natürlich, mit dem Ergebnis bin ich allerdings nicht glücklich. Wobei es insofern etwas Gutes hat, daß es nicht für eine Regierungskoalition mit einer der früheren SED nahen Partei reicht. 

Was erwarten Sie von der neuen Bundesregierung für Ihre Generation? 

Scholz: Nicht viel, denn in den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich die Politik immer weiter von den traditionellen Werten verabschiedet, um sich denen, die diese verachten, angenehm zu machen.

Und wie fühlen Sie sich persönlich? 

Scholz: Ach, vor fünf Jahren schon haben meine Frau und ich gesagt, jetzt reicht es eigentlich ...

Was heißt das? Wünschen Sie sich etwa zu sterben? 

Scholz: Sehen Sie, meine Frau und ich sind krank, so viele Freunde und Bekannte gestorben. Eigentlich habe ich gar keine Ansprache mehr. Es ist schrecklich, wenn man sich mit niemandem mehr austauschen kann; dann wartet man nur noch die Tage ab. Ich denke aber, das liegt auch daran, daß man unsere Generation nicht mehr versteht, ja auch das wertvolle Traditionelle nicht mehr beachtet.

Was meinen Sie damit? 

Scholz: Was ist Tradition? Sie ist das Band zwischen den Generationen. Ohne sie werden die Alten den Jungen unverständlich. Eine Gesellschaft, die ihre Tradition nicht pflegt, grenzt die ältere Generation aus, und damit geht der Zusammenhalt der Gesellschaft kaputt.

Oder verweigern Sie sich vielleicht dem Modernen? 

Scholz: Oh, ich bin sehr für Modernisierung, ohne die geht es nicht. Aber trotzdem sollte man das Frühere verstehen und in Ehren halten. 

Ausgrenzung zu bekämpfen gilt aber doch inzwischen als das höchste gesellschaftliche Ziel. 

Scholz: Tatsächlich wird unsere Vergangenheit gerade von denen, die angeblich besonders gegen Haß und Ausgrenzung sind, nur schlechtgemacht. Plötzlich ist dieses in der Vergangenheit ein „Verbrechen“ und jener war ein „Rassist“; hier ist noch eine Straße, die so nicht mehr heißen, dort ein Wort, das man nicht mehr sagen darf! Was unsere Generation erlitten und geleistet hat, dafür gibt es wenig Respekt, nur mehr Anklagen. 

Sie fühlen sich davon persönlich getroffen?

Scholz: Nein, ich meine es gerade nicht persönlich! Vielmehr war meine Devise schon immer, daß mein Wohl hinter dem der Gemeinschaft zu stehen hat. So spreche ich nicht für mich, sondern für unsere Generation: Viele Leute machen sich heute nicht klar, was sie dieser antun. Alt zu werden ist ein sehr schmerzlicher Prozeß, und wenn diese gesamte Generation auch noch auf der Anklagebank sitzt und es der Gesellschaft nicht schnell genug geht, vieles von dem, was für diese Wert hat, wegzuwerfen, dann ist das wie eine Vertreibung aus der Welt. Damit nimmt man den Alten, die zu den Schwächsten zählen, das Letzte, was sie noch haben. Zudem wünschen diese sich doch nur noch eines, nämlich die Lehren aus ihren guten und schlechten Erfahrungen weiterzugeben. Das aber ist unmöglich, denn die Jungen verstehen uns nicht, weil ihnen ein Zerrbild unserer Welt und Werte beigebracht wird. 

Woher kommt dieses „Zerrbild“, also diese Verachtung? 

Scholz: Das frage ich mich auch. Denn der weltweit phantastische Wohlstand Deutschlands, in dem unsere junge Generation lebt, beruht wesentlich auf unserer Aufbauleistung. Doch statt Dankbarkeit oder Anerkennung erfährt die Erlebnisgeneration Verurteilung – Verurteilung dafür, daß die Welt früher anders war. Dabei haben die meisten heute gar keine Ahnung von der damaligen Welt, sie interessiert sie auch nicht. Ich glaube, sie bemühen sie auch gar nicht, sie zu verstehen. Denn dann kann man sie besser anklagen – und sich selbst damit herausstellen. 

Jahrelang haben Sie Vorträge gehalten, um der Jugend Ihre Zeit zu erklären.

Scholz: Bis es gesundheitlich nicht mehr ging. Zuvor war ich als Zeitzeuge auch im TV, etwa im ZDF und sogar in ausländischen Sendern, wie dem russischen Fernsehen aus Moskau. Ich habe aber gemerkt, wie das historische Verstehen der tragischen Kriegszeit immer mehr der Vorverurteilung wich. Und mir wurde klar, sobald ich in Rente bin und Zeit habe, muß ich aufschreiben, wie unsere Generation diese Zeit wirklich erlebt hat! 1983 war es soweit, und ich schrieb dreißig Tage und Nächte, bis ich einen „Tennisarm“ hatte. Man warnte mich, höchstens würde ich 300 Exemplare meines Erlebnis- und Zeitzeugenberichts „Von Danzig nach Danzig“ verkaufen. Trotzdem druckte ich tausend. Und bald war eine zweite Auflage nötig, mit diesmal zweitausend Stück. Die ersten fünf Auflagen druckte ich auf eigene Kosten, dann übernahm ein Verlag aus Würzburg mein Buch.

Wie haben Sie, hat man in Ihrer Generation „diese Zeit erlebt“? 

Scholz: Das Buch beginnt mit meiner Jugendzeit kurz vor Ausbruch des Kriegs. Ich schildere, was ich mit 14 erlebt habe, bis hin zu meinem Einsatz als Soldat. Den idealistischen Patriotismus meiner Jugend, unsere Hoffnung auf Deutschlands Wiederaufstieg und den Krieg, der am frühen Morgen des 1. September 1939 begann – und zwar bei uns in Danzig mit dem Angriff des Kriegsschiffs „Schleswig-Holstein“ auf die polnisch besetzte „Westerplatte“. Unser Haus lag zufällig so, daß wir den Auftakt wie auf einer Theaterbühne mitverfolgen konnten. Dann frühstückten wir erstmal. Am nächsten Tag gingen wir auf den Danziger Höhen zwischen Flakstellungen spazieren und verfolgten mit Tausenden anderen mittels Fernglas die Gefechte. Bei einem anderen Spaziergang trat ein Soldat aus dem Gebüsch und bat uns abzubiegen, da hier in Kürze ein Feuerüberfall unserer Artillerie stattfinde. Der Krieg erschien zuerst also gar nicht so ernst. Und natürlich hatten wir keine Zweifel, daß er gerecht war, denn Danzig war damals zu 96 Prozent deutsch, also weit mehr als jede deutsche Großstadt heute, und war mit Gewalt von Deutschland abgetrennt worden. Da war es nur gerecht, wenn es wieder zu Deutschland kam! Zuvor mußte man erst durch den „Polnischen Korridor“ fahren, um ins Reich zu kommen. Eine beklemmende Erfahrung. Wenn wir die Reichsgrenze erreicht hatten, berührte ich als Bub dort den Asphalt oder einen Baum und spürte fasziniert – nun war ich in Deutschland! 

Heute gilt jemand, der so fühlt und spricht als „Nazi“. 

Scholz: Weil die meisten keine Ahnung von der Zeit haben. Fast alle waren Patrioten – aber nur einige Nazis. Meine Eltern, monarchistisch geprägt, wählten als gute Katholiken Zentrum und lehnten Hitler ab. Sie weigerten sich sogar, ihn zu sehen, als er, was ja ein Ereignis war, im September 1939 nach Danzig kam. Als geflaggt wurde, hängten wir statt der Hakenkreuz- die Danziger Fahne heraus, was natürlich vom NS-Ortsgruppenleiter notiert wurde. Als die Judenunterdrückung begann und stärker wurde, kaufte mein Vater seine Zigaretten wann immer möglich bewußt beim jüdischen Tabakhändler. Bei einer Feier verließ er den Saal, als das Horst-Wessel-Lied erklang. Das reichte den Nazis und sie verboten ihm, die Gasmesserfabrik, die er leitete, zu betreten, und noch am Tag des Anschlusses kam die Gestapo zu uns nach Hause zum Verhör. So senkte sich auf die Freude darüber, daß Danzig heim ins Reich gekommen war, ein eiskalter Hauch. Ich selbst war übrigens statt in der Hitlerjugend solange es ging im Bund „Neudeutschland“, der mit dieser verfeindet war. Und so sehr wir den Anschluß Österreichs und des Sudetenlandes begrüßten, die Besetzung der Resttschechei lehnten wir ab. Hatte Hitler doch zuvor versprochen, er wolle keine Tschechen, und das Sudetenland sei seine letzte territoriale Forderung in Europa – eine Lüge! Natürlich aber standen wir voll hinter unserer Wehrmacht. Als Kind bat ich meinen Vater etwa, mein hart Erspartes nach Berlin zu schicken, damit Deutschland U-Boote bauen könne. Später prügelte ich mich mit einem polnischen Diplomatensohn, der laut den Tod deutscher Soldaten im Spanienkrieg bejubelte. Man war für Deutschlands Aufrüstung, weil man ja erlebte, daß nur das Land anständig behandelt wurde, das stark war. Und keineswegs waren wir da allein. Etliche meiner Klassenkameraden und Lehrer lehnten die Nazis ab, waren natürlich aber für ein starkes Deutschland. 

1942 wurden Sie Soldat, veränderte das Ihre Sicht?

Scholz: Nein, das begann ja schon mit diesen Entwicklungen, besonders mit dem eben geschilderten Bruch des „Münchner Abkommens“ von 1938 und den immer schlimmer werdenden Judenpogromen. Was aber blieb, war unser Einsatz für Deutschland. Und am Ende kämpften wir verzweifelt, um Heimat und unser Volk zu retten, nicht aus Fanatismus, wie heute oft dargestellt. Im Gegenteil, wir hätten uns aus gefährlichen Lagen gerne etwas zurückgezogen, versuchten aber die Flüchtlingstrecks zu retten, die täglich von der Roten Armee angegriffen wurden. Am Tage mußten wir, da wir keine Luftwaffe mehr hatten, die Massaker mit ansehen, die die russischen Flieger unter den fliehenden Frauen, Kindern und Greisen anrichteten. Und nachts die Schreie und Verzweiflung der Frauen und Mädchen hören, die den Russen in die Hände gefallen waren. Es war entsetzlich! Doch hat unser Kampf noch so vielen die Flucht ermöglicht. Später bekam ich auf mein Buch hin deshalb Dankesbriefe! Wer weiß, wie viele junge Deutsche, die ihre Großväter für „Nazis“ halten, heute nur leben, weil wir damals die Flucht ihrer Großeltern vor den Russen ermöglichten!

Ausgerechnet dort, wo Sie aufgewachsen waren, gerieten Sie auch in Gefangenschaft: in Danzig. 

Scholz: Ja, nach fürchterlichen Kämpfen in Ostpreußen und Rettung über das Frische Haff, hofften wir, in englische Gefangenschaft gehen zu können. Doch in der Weichselniederung bei Danzig hörten wir, daß Hitler tot war – und es war, als wären wir von einer schweren Last befreit worden! Dann die Kapitulation. Am 10. Mai führten die Russen uns durch meine Vaterstadt. Erschütternd die Bilder der verbliebenen Zivilisten. Wenn je das Wort Volksgemeinschaft eine Wahrheit war, dann in diesem Moment, in dem wir mit den Frauen und Kindern an denen wir vorbeikamen, wie verschmolzen waren. Besonders erinnere mich eines Mädchens, das rief: „Heute Nacht ging es. Da waren es nur drei ...“ Dann wurden wir in den Kaukasus verschleppt, in eisigen, überfüllten, mit Krankheit verseuchten Viehwaggons. Als wir nach dreißig Tagen und Nächten ankamen, waren wir zu schwach, um auszusteigen und fielen aus den Waggons. Vier Jahre Zwangsarbeit, in der Furcht, nie wieder heimzukehren. Dreimal war ich so geschwächt, daß ich dem Tod nahe war. Als ich 1949 nach Deutschland kam, war das wie ein Wunder! Heute sind fast alle, die von damals noch berichten können, tot oder nicht mehr in der Lage dazu. Um so mehr fühle ich es wie eine Verpflichtung, stellvertretend für sie über unsere Generation und ihre Zeit wahrhaftig und so objektiv wie möglich Zeugnis abzulegen. Und wenn inzwischen auch nicht mehr durch Lesungen und Vorträge, so tröstet mich doch, daß mir dies weiterhin dadurch möglich ist, daß mein Zeitzeugenbericht gelesen wird. 






Joachim Scholz, der ehemalige Prokurist in der Stahlbranche wurde 1924 in Danzig geboren. Sein 1986 erschienenes Buch „Von Danzig nach Danzig ... ein weiter Weg 1933 bis 1945“ lobte die Welt wegen seiner „besonderen Authentizität“, die Westdeutsche Allgemeine als „spannend“ und „ehrlich“. 1989 erschien der Folgeband „Als nur die Hoffnung blieb. In russischer Kriegsgefangenschaft“. Interviews mit Joachim Scholz sind auch im Internet auf dem Zeitzeugenportal des Bonner „Hauses der Geschichte“ der Bundesrepublik Deutschland oder auf Youtube abzurufen. 

Foto: Soldatenfriedhof auf dem Georgenberg im brandenburgischen Spremberg: „Eine Gesellschaft, die ihre Traditionen nicht pflegt, grenzt die ältere Generation aus ... Tatsächlich wird unsere Vergangenheit gerade von denen, die gegen Haß und Ausgrenzung sind, nur schlechtgemacht“