© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/21 / 12. November 2021

Ohne Gewehr
Waffenrecht: Weil er angeblich dem ehemaligen„Flügel“angehört, wird einem AfD-Politiker der Jagdschein vorenthalten. Die Begründung der Behörden ist äußerst fragwürdig
Christian Vollradt

Eigentlich würde Thore Stein dieser Tage auf einem Hochsitz nach weiblichem Rehwild Ausschau halten. Oder gemeinsam mit anderen „Grünröcken“ bei einer Drückjagd Wildschweine aufspüren und bejagen. Seit seiner Studentenzeit ist der junge Familienvater, der mit seiner Frau und vier kleinen Kindern in einem beschaulichen Dorf in der Nähe des west-mecklenburgischen Hagenow wohnt, mit Leib und Seele Waidmann. Und eigentlich würde er dieser Leidenschaft für die Natur und das jagdliche Brauchtum auch jetzt wieder gerne nachgehen. Eigentlich? Daß es der Agrarwissenschaftler, der gerade für die AfD in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern gewählt wurde, nicht tun kann, oder besser: nicht tun darf, liegt an der Entscheidung des Landkreises Ludwigslust-Parchim. Der ist als sogenannte untere Jagdbehörde zuständig für die Erteilung von Jagdscheinen. 

Der – zeitlich begrenzte – Jagdschein berechtigt seinen Inhaber „zum Erwerb von Langwaffen sowie der entsprechenden Munition“ und ist somit eine waffenrechtliche Erlaubnis im Sinne des Waffengesetzes. Jäger brauchen dieses Dokument also nicht nur, um die Jagd auszuüben, es ist auch Grundvoraussetzung für ihre Waffenbesitzkarte. Der Jagdschein weist den Bedarf für Waffen nach, und nur wer einen Bedarf nachweisen kann, hat das Recht, sie zu besitzen. 

Steins Jagdschein lief Ende März ab, daher beantragte er eine Verlängerung um weitere drei Jahre. Dann passierte lange Zeit erst einmal – nichts. Sobald er sich telefonisch oder per E-Mail bei der Behörde erkundigte, wurde er jedesmal vertröstet. Der Antrag sei noch in der Bearbeitung, warum es dauere, könne man nicht genau sagen … „Die haben mich glatt angelogen“, ist sich Stein rückblickend im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT sicher. In Wahrheit kannten die zuständigen Beamten den Grund. 

Denn Monate später, am 5. August, meldete sich das Landratsamt bei dem 33jährigen: „Im Rahmen der Zuverlässigkeitsüberprüfung“, heißt es im Schreiben der unteren Jagdbehörde, „wurde bekannt, daß gegen Sie Zweifel an der Zuverlässigkeit im Sinne des Paragraphen 5 des Waffengesetzes bestehen.“ Zur Begründung heißt es weiter: „Die Zweifel richten sich gegen Ihre Verfassungstreue.“ Es sei bekannt, „daß Sie Anhänger der AfD­-Gruppierung ‘Der Flügel’ sind. Diese Gruppierung ist als rechtsextremistische Bestrebung zu werten, auch wenn diese zwischenzeitlich formal aufgelöst wurde.“ So habe er beispielsweise im Netzwerk Facebook „typische Bezeichnungen aus dem Sprachgebrauch des ‘Flügels’“ verwendet. Auch werbe er mit Behauptungen, die mehrfach von Flügel-Vertretern getätigt worden seien, etwa „des B. Höcke“. Durch die „erkennbar gelebte Ideologie“ kämen „erhebliche Zweifel an der Verfassungstreue ihrer Person auf“. Es deute darauf hin, „daß Sie ein gesteigertes Interesse an der oben beschriebenen ideologischen Auffassung haben oder diese gar teilen.“ 

Aufgrund dieser Erkenntnisse sei davon auszugehen, „daß Sie die erforderliche Zuverlässigkeit nicht mehr besitzen“. Denn bei Personen, „bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß sie in den letzten fünf Jahren Bestrebungen verfolgt haben, die gegen die verfassungsgemäße Ordnung sind oder die Mitglied in einer Vereinigung waren, die solche Bestrebungen verfolgt“, sei „in der Regel“ die waffenrechtliche Zuverlässigkeit nicht gewährleistet. Die Erlaubnisbehörde beabsichtige daher, die Erteilung des Jagdscheins zu versagen.

Seitdem Anfang vergangenen Jahres das 2019 verschärfte Waffengesetz in Kraft trat, ist die Anfrage beim Verfassungsschutz verpflichtend, wenn es um die Prüfung der waffenrechtlichen Zuverlässigkeit geht. Ziel der Großen Koalition war es, durch die Regelanfrage bei den Verfassungsschutzbehörden zu verhindern, daß „Verfassungsfeinde und Extremisten legal in den Besitz von Schußwaffen gelangen können“. Und Teil der Verschärfung ist eben auch, daß bereits die Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung die „Regelvermutung der waffenrechtlichen Unzuverlässigkeit“ begründet.

Für Stein kam die Ablehnung des Waffenscheins und ihre Begründung überraschend. „Durch diesen Vorgang werde ich bewußt in eine Schublade mit Extremisten und Straftätern gesteckt, denen man übrigens zu Recht eine Waffenerlaubnis versagt“, empört sich der Reserveoffizier. Vor allem verwunderte es ihn, auf welcher Basis die Behörde zu der Erkenntnis gelangt war, er sei angeblich Anhänger des aufgelösten „Flügels“. Tatsächlich hat Stein sich nie selbst als solcher bezeichnet oder positioniert, gehörte weder zu den Unterzeichnern  der „Erfurter Erklärung“, die als Gründungsdokument des „Flügels“ gilt, und nahm auch nie an einem der regionalen oder bundesweiten Treffen der Gruppierung teil. 

Schon Mitte März – und damit zu einer Zeit, als sich das Landratsamt auf Nachfragen noch ahnungslos gab – hatte das Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern der unteren Jagdbehörde mitgeteilt, Antragsteller Stein sei „als Anhänger der AfD-Teilorganisation ‘Der Flügel’ bekannt“. Die „ist auch in Mecklenburg-Vorpommern als gesicherte rechtsextremistische Bestrebung zu bewerten“, nachdem das Bundesamt für Verfassungsschutz im März 2020 festgestellt hatte, daß sich der bisherige Verdacht rechtsextremistischer Bestrebungen bei der parteiinternen Strömung „zur Gewißheit verdichtet“ habe. 

Doch ganz offensichtlich hatte das Landratsamt Ludwigslust-Parchim selbst zunächst erhebliche Zweifel – nicht an der Zuverlässigkeit oder Verfassungstreue Steins, sondern an der Stichhaltigkeit der Vorwürfe gegen ihn. So wandte sich die für das Waffenrecht zuständige Sachbearbeiterin in einem Brief an das Innenministerium in Schwerin. Bezogen auf „Schriftsätze, die darauf hindeuten, daß Herr Stein rechtsextremistische Bestrebungen verfolgen soll“, stellte die Mitarbeiterin des Landrats fest: „Derzeit erscheinen uns die Gründe für eine waffenrechtliche Unzuverlässigkeit noch nicht überzeugend.“ Deshalb bat sie das Ministerium mitzuteilen, welche Sachverhalte für eine Nähe Steins zum „Flügel“ sprächen. „Welche Umstände führten zu der Feststellung, daß Herr Stein als Anhänger der AfD-Teilorganisation bei Ihnen bekannt wurde?“

Als Belege für die Zugehörigkeit Steins zum „Flügel“ lieferte das Ministerium in erster Linie Facebook-Einträge. So habe er beispielsweise als Kommunalpolitiker geschrieben, die CDU habe nach der Wiedervereinigung „zugesehen, wie die Betriebe im Osten durch Konzerne meistbietend aufgekauft und zerschlagen wurden. Damit habe die Partei „die Menschen in Mitteldeutschland verraten.“ Und weiter: „Die CDU verrät heute ganz Deutschland.“ Schlußfolgerung des Innenministeriums: „Die CDU wird damit im Sinne eines vermeintlichen ‘Volksverrates’ als Gegner der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung diskreditiert.“

Tatsächlich hatte Stein einen Link zu einer Sendung des ARD-Magazins „Report“ gepostet und einen einleitenden Kommentar dazu verfaßt. Darin kritisierte er den Umgang mit den Enteignungen von 1945 und 1949 in der SBZ beziehungsweise DDR. Die Regierung Kohl, so Stein, habe die „historisch einmalige Chance“ verstreichen lassen, das sogenannte Volkseigentum an die rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben. Aus diesem Zusammenhang hatte das Innenministerium die Äußerungen bezüglich des „Verrats“ herausgerissen. 

Für Steins Rechtsanwalt Alexander Wolf ist klar, daß die Kriterien einer Zuordnung seines Mandanten zum „Flügel“ allesamt nicht erfüllt werden. Der Jurist, der als Mitglied des AfD-Bundesvorstands auch für die dort angesiedelte Arbeitsgruppe Verfassungssschutz zuständig war (JF 44/21), wirft dem Innnenministerium vor, faktenfrei zu argumentieren. Vor allem widerspreche die Zuordnung den von den Innenministerien selbst zugrundegelegten Kriterien. So hatte die Landesregierung Anfang März auf eine Anfrage der AfD-Landtagsfraktion bezüglich einer Zuordnung von Personen zum „Flügel“ geantwortet: „Indikatoren können beispielsweise ein Selbstbekenntnis zum ‘Flügel’ oder die Übernahme einer offiziellen Funktion, etwa die eines sogenannten Obmannes oder Ansprechpartners, sein. Auch die ausdrückliche und unmittelbare Unterstützung des „Flügels“ kann im Zusammenhang mit anderen Kriterien, wie etwa einer wiederholten Teilnahme an „Flügel“-Treffen oder der Unterzeichnung der sogenannten Erfurter Resolution eine Zuordnung zum „Flügel“ ermöglichen. Eine Zuordnung zum „Flügel“ basiert somit ausschließlich auf individuellen Verhaltensweisen.“ Ebenso hatte Niedersachsens Landesregierung klar festgestellt: „Ein bloßes Abonnement von dem ‘Flügel’ zuzuordnenden Profilen bzw. deren ‘liken’ oder ‘folgen’ stellt für den niedersächischen Verfassungsschutz kein ausreichendes Zuordnungskritierium dar.“ 

Auch bezüglich der Inhalte in Steins Facebook-Posts hält Wolf in seiner über 30seitigen Stellungnahme den Behörden fehlerhafte Schlußfolgerungen vor. Weder verleugne noch verharmlose der AfD-Landtagsabgeordnete die Verbrechen des Nationalsozialismus, indem er an die zivilen Opfer des Untergangs der „Wilhelm Gustloff“ 1945 erinnert. In Steins Kommentar „Ein Volk in Auflösung“ zu einem Artikel der jungen freiheit mit der Überschrift „Migrationsbericht: Immer weniger Deutsche, immer mehr Ausländer“ sah der Verfassungsschutz den Beleg für die „vielfach von ‘Flügel’-Vertretern behauptete Auflösung des deutschen Volkes im ethnischen Sinne aufgrund von Zuwanderung“. Anwalt Wolf widerspricht und beruft sich auf den Staatsrechtler Dietrich Murswiek: Der Verfassungsschutz sehe „jede politische Anknüpfung an den ethnisch-kulturellen Volksbegriff unzutreffend als potentiell verfassungsfeindlich“ an. Es gebe jedoch keine „verfassungsrechtliche Verpflichtung, Einwanderung zu erlauben beziehungsweise hinzunehmen“. 

„Behördenwillkür gegen politisch Unliebsame“

Besonders perfide erscheint Stein und seinem Rechsbeistand, daß der Landesverfassungsschutz im Zusammenhang mit der angeblichen Verfassungsfeindlichkeit erwähnt, Stein sei bereits Ziel eines „Outings“ der linksextremen Antifa gewesen. Mit dem Hinweis, man mache sich den Inhalt nicht zu eigen, fügte die Behörde das Antifa-Pamphlet in vollem Umfang der Akte an das Landratsamt bei. 

Vom Gesetz her kann die untere Jagdbehörde bei ihrer eigenen Prüfung der waffenrechtlichen Zuverlässigkeit auch zu einer anderen Einschätzung als der Verfassungsschutz kommen. Stein vermutet, daß man hier auf Zeit spielt. Seit der im September eingereichten Stellungnahme seines Anwalts hat er nichts mehr gehört. Fristen gibt es keine. „Das Verfahren um die Versagung meines Jagdscheins ist eine Farce“, ärgert sich der erfahrene Jäger. Die Vorwürfe seien völlig haltlos, die Vorgehensweise der zuständigen Behörde mehr als fragwürdig. Die zeitliche Verschleppung ist nicht nur im Hinblick auf die laufende Jagdsaison äußerst ärgerlich, sondern auch hinsichtlich der damit verbundenen öffentliche Wahrnehmung meiner Person.“

Weil auf dem Jagdschein die Munition für seine Langwaffen eingetragen ist, hat Stein die entsprechenden Patronen bereits einem Jagdfreund zur Verwahrung übergeben. Wird ihm der Jagdschein noch länger verwehrt, könnte dies Auswirkungen auf seine Waffenbesitzkarte haben. Denn ohne Jagd kein Bedarf. „Wenn das Waffengesetz zur Ausübung von Behördenwillkür gegen unbequeme politische Mitbewerber genutzt wird, hört für mich das Verständnis auf“, resümiert der sichtlich verärgerte Waidmann.

Foto: Hochsitz ohne Waidmann: „… daß Sie die erforderliche Zuverlässigkeit nicht mehr besitzen“