© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/21 / 12. November 2021

Orchestrierter Sturm auf Europa
Lukaschenko schickt Migranten als Waffe an Polens Ostgrenze: Warschau kann den Angriff abwehren. Und zeigt sich kämpferisch
Hinrich Rohbohm / Christian Rudolf

Es sind dramatische Bilder, die aus dem weißrussischen Grenzgebiet zu Polen um die Welt gehen: Vieltausendköpfige Gruppen arabischer Nahost-Migranten lagern seit Montag nachmittag im Freien unmittelbar an der polnischen Grenze etwas südlich des Grenzübergangs Bruzgi/Kuźnica in Podlachien. Im Wald dahinter stehen bewaffnete weißrussische Einheiten und passen auf, daß niemand zurückkehrt. Junge arabische Männer versuchen mit roher Gewalt den Grenzzaun zu überwinden und sich Zutritt auf polnisches Territorium zu verschaffen. Sie zerstören mit Seitenschneidern und Spaten den polnischen Stacheldraht an mehreren Stellen, reißen aggressiv den Grenzzaun nieder und stoßen mit Baumstämmen auf die Grenzanlagen zu, machen ein großes Geschrei und gestikulieren und lachen. In großer Zahl aufmarschierte polnische bewaffnete Grenzschutz-, Armee- und Polizeieinheiten wehren mit Tränengas den Ansturm ab und vereiteln Grenzdurchbrüche. An den beschädigten Stellen stehen die Beamten wie eine Mauer. Ein polnischer Armeehubschrauber fliegt den Grenzstreifen entlang. Als die Dunkelheit hereinbricht, schlagen die Migranten auf einer Länge von vielen Hunderten Metern ihre Zelte auf, entzünden Lagerfeuer und kampieren.

Dem in Polen lebenden weißrussischen freien Journalisten Tadeusz Giczan zufolge gibt es Berichte, nach denen weißrussische Soldaten in der Nacht zu Dienstag Schüsse in die Luft abgegeben haben, um die Migranten daran zu hindern, von der Grenzlinie zurück ins Hinterland zu gelangen. Der JF liegen zwei weitere Twitter-Videos vor, auf denen Soldaten in die Luft schießen: an einem zweiten Grenzzaun im Hinterland. Am Dienstag meldet das litauische Nachrichtenportal delfi.lt, weißrussische Sicherheitskräfte hätten nachts eine Gruppe von 500 Migranten an die Grenze zu Litauen verfrachtet und sie gedrängt, nahe dem litauischen Dorf Kapcziamiestis die Staatsgrenze zur EU zu überschreiten. Ob das gelungen ist bleibt unklar.

„Wir wollen nicht nach Polen! Wir wollen nach Deutschland!“

Zu Wochenbeginn hat das Lukaschenko-Regime in Minsk die künstlich geschaffene Migrationskrise noch einmal weiter scharf eskaliert. Orchestriert vom weißrussischen Geheimdienst KGB und unter strenger Steuerung und Kontrolle durch eigene Sicherheitskräfte, stellt sich das Geschehen wie folgt dar: Fotos vom Samstag zeigen im Stadtzentrum von Minsk eine große Gruppe von Migranten sich sammeln. Twitter-Schnipseln ist zu entnehmen, daß es sich um irakische Kurden, Syrer, Iraker, Iraner und Afghanen handeln soll. Minsk ist nicht Berlin, migrantische Gruppen aus Nahost fallen im Stadtbild daher sofort auf. Schon in der Woche davor verbreitete der Twitter-Nutzer „Magmagmag“ eine Aufnahme, die zeigen soll, wie arabische junge Männer in armeedienstfähigem Alter in einem Minsker Einkaufszentrum herumlungern – bissig kommentiert mit „Sind nur Frauen und Kinder“.

Auf einem 20-Sekunden-Video vom Montag dann tritt eine große Gruppe Migranten aus dem weißrussischen Wald heraus. Wahrscheinlich nehmen sie eine Abkürzung von den nahen Lkw-Stellplätzen, wo Busse aus Minsk sie ausgeladen haben. Die Gruppe marschiert weiter auf der Autobahn M6 Hrodna – Białystok in Richtung des nahen Grenzübergangs Bruzgi/Kuźnica. Ein weiteres Video zeigt Truppen des Lukaschenko-Innenministeriums am Grenzübergang, wie sie Stacheldrahtrollen verladen.

Dann: Einige hundert Meter vor den Grenzabfertigungsanlagen drängen Bewaffnete die Migrantengruppe von der Autobahn ab und in den Wald, ungeachtet der Tageszeit und der Herbsttemperaturen im Osten. Sie ziehen durch den Kiefernwald. Es sind zu mehr als drei Vierteln junge Männer, der Rest Frauen und kleinere Kinder. Ähnlich wie damals in der DDR überwacht die Republik Belarus streng den Zugang in die Fünf-Kilometer-Sperrzone vor der Grenze. Ohne behördliche Genehmigung kommt dort niemand hinein, Ausländer haben Zutrittsverbot. Eigentlich.

„Nach neuesten Informationen steht diese riesige Gruppe von Migranten unter der Kontrolle von bewaffneten weißrussischen Einheiten, die entscheiden, wohin sie gehen darf und wohin nicht“, twitterte am Montag der polnische Geheimdienstkoordinator Stanisław Żaryn. Der „koordinierte Versuch des massenhaften Eindringens von durch Belarus benutzten Migranten“ nannte er einen „hybriden Angriff gegen Polen“.

Der nächste Schauplatz: der eingangs beschriebene Sturm auf die polnische Grenze. Vize-Innenminister Maciej Wąsik twitterte: „In diesem Moment haben wir bei Kuźnica einen regulären Kampf. Grenzwache, Polizei und polnische Streitkräfte verteidigen unsere Grenze vor dem Angriff durch Migranten, die durch Lukaschenko angestiftet und vorbereitet wurden. Bedenkt: Die polnischen Beamten verteidigen uns, aber sie brauchen unsere Unterstützung!“

Am Montag abend verbreitet der weißrussische Grenzschutzdienst ein Video einer bezeichnenden Szene aus dem Lager an der Grenze: Aus einer Gruppe heraus ruft ein Migrant Ende Zwanzig in schlechtem Englisch in die Kamera: „Wir wollen nicht nach Polen gehen! Wir wollen nach Deutschland!“

Polen schloß am Dienstag den Grenzübergang Kuźnica für jedweden Übertritt. Seit Samstag gilt zudem: Auf jeden Versuch illegaler Einreise folgt die sofortige Abschiebung und ein Einreiseverbot in die ganze EU.

Am Dienstag in der Früh besuchten Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sowie Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak (beide PiS) die Truppen an der Grenze und dankten ihnen für ihren „schwierigen Dienst“. „Das Maß der Souveränität eines Staates ist die Fähigkeit, seine Grenzen zu verteidigen“, stärkte Morawiecki ihnen den Rücken. Tags zuvor hatte der Ministerpräsident auf Twitter bekundet: „Die Grenze des polnischen Staates ist nicht nur eine Linie auf der Landkarte. Für sie haben Generationen von Polen ihr Blut vergossen. Diese Grenze ist heilig.“

Ein über Twitter verbreitetes Video vom Dienstag zeigt im Minsker Stadtzentrum erneut eine große Migrantengruppe zusammen versammelt. Vorboten des nächsten Schubs? Eine Analyse der Ankünfte am Minsker internationalen Flughafen zeigt pro Woche über 50 Flüge aus Moskau, Istanbul, Dubau, Erbil, Bagdad, Damaskus, Beirut sowie mehreren ägyptischen Städten. 


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Szenenwechsel: An einem Abend in der zurückliegenden Woche, halb zehn Uhr auf der Frankfurter Oderbrücke, über die die deutsch-polnische Grenze verläuft. Hunderte von Fahrzeugen quälen sich auf der Überführung durch den Verkehr, stoppen, wenn deutsche Polizisten mit rot beleuchteter Kelle einen Transporter wieder einmal zum Halt auffordern.

Mit Taschenlampen leuchten die Beamten in die ankommenden Fahrzeuge. Fahrer von Transportern müssen aussteigen, die Tür zum Laderaum öffnen. Grenzkontrollen? Nein, die gibt es nicht. Nicht mehr. Die deutsch-polnische Grenze ist seit 2007 Schengen-Raum. Polizei und Zoll führen nur stichprobenartige Kontrollen durch. Der Grund dafür spielt sich 600 Kilometer weiter östlich ab.

Seit den Sommermonaten schon läßt der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko Migranten aus dem Nahen Osten nach Minsk einfliegen, um sie an die polnische EU-Außengrenze zu bringen. Eine Form der zivilen Kriegsführung, mit dem Ziel, den Westen zu destabilisieren. Mittlerweile hat die polnische Regierung nach Angaben vom Dienstag 13.000 Soldaten, Grenzbeamte und Polizisten zum Schutz der östlichen Staatsgrenze zusammengezogen.

Diejenigen, die trotzdem durchkommen, bleiben nicht in Polen. Mit Hilfe von Schleuser-Netzwerken ziehen sie weiter Richtung Deutschland. „Noch im September konnte man immer wieder Migrantengruppen über die Brücke kommen sehen“, erzählt ein Anwohner in Frankfurt/Oder der JF. Erst waren es nur Hunderte. Dann wurden es Tausende.

Die Schlepper warten hinter der polnisch-weißrussischen Grenze auf ihre „Kunden“ und bringen sie mit dem Wagen bis zur deutsch-polnischen Grenze. Oder auch darüber hinaus.

Die Folge: verstärkte Polizeikontrollen. „Seitdem kommen die Migranten überwiegend in Transportern nach Deutschland“, erzählen weitere Anwohner. Daß die Kontrollen die Migranten aufhalten, glaubt hier keiner. „Die Schleuser haben sich längst auf die neue Situation eingestellt, die sind ja auch nicht blöd“, meint einer.

Die Kontrollen sind dürftig, die Blicke der Beamten in die Innenräume der Transporter flüchtig. Zumeist keine fünf Sekunden. Schleuser haben da leichtes Spiel. Neben der Oderbrücke hängt ein Plakat: „Finger weg von Feuerwerkskörpern“, warnt darauf die Bundespolizei. Warnschilder vor illegalem Grenzübertritt sucht man vergeblich.

Glaubt man den Aussagen von Anwohnern nahe der Oderbrücke, so haben die Schleuser auf deutscher Seite Helfer. Bewohner aus den umliegenden Hochhäusern, von deren Fenstern aus sich der Grenzübergang gut beobachten läßt. Die Vermutung der Anwohner: „Da gibt jemand den Schleppern Infos, wann die Polizei kontrolliert und wann nicht.“ Wir machen die Probe, stellen uns auf die Brücke und beobachten den Straßenverkehr während der Polizeikontrollen. Nur wenige Transporter sind unterwegs. Tatsächlich nimmt deren Anzahl sprunghaft zu, nachdem sich die Polizei wieder von der Grenze zurückzieht. Sind das Schleuser, die da unterwegs sind?

„Wir bekommen von den Migranten kaum etwas mit“, sagt ein Rentner. In Frankfurt/Oder würden nur die wenigsten von ihnen bleiben. „Hier ist doch nichts. Hier gibt es keine Arbeit. Die meisten wollen weiter nach Berlin.“ Grenzkontrollen? Will man auf keinen Fall. „Dann staut sich hier alles, und wir können nicht mehr günstig in Polen tanken und einkaufen.“

Im 30 Kilometer südlich gelegenen Eisenhüttenstadt liegt ein Erstaufnahmezentrum. Die Migranten bleiben nur wenige Tage und werden anschließend auf verschiedene Aufnahmelager in ganz Deutschland verteilt. Direkt gegenüber der Erstaufnahme haben sich zahlreiche Migranten mit Koffern und Rucksäcken an einer Haltestelle versammelt und warten auf den Bus zum Bahnhof. Sie alle haben einen weißen Zettel bei sich: der Bescheid über die Verteilung auf die weiteren Aufnahmeeinrichtungen.

„Ich komme aus dem Irak“, sagt einer von ihnen im besten akzentfreien Deutsch. Ein Satz, den man ihm beigebracht hat. Ansonsten spricht der Mann kein Deutsch. Auch weiß er nicht, wie er zur Einrichtung kommen soll. Die Migranten werden von der Erstaufnahme aus einfach losgeschickt. Unkontrolliert und ohne Reiseplan. Ob sie tatsächlich zur Einrichtung fahren oder zu längst zahlreich in Deutschland lebenden Verwandten oder Bekannten, prüft niemand. Ähnlich wie 2015.

„Geht das hier jeden Tag so?“ –   „Ja, jeden Tag“

„Wann kommt der nächste Bus?“ fragen wir den Iraker zur Probe. Er streckt nur sein Handy entgegen, hat ein Übersetzungsprogramm aktiviert, das ins Arabische dolmetscht. Antwort: „Ich weiß es nicht.“ Als ein Bus kommt, weiß auch niemand aus der Gruppe, ob es der richtige ist. Große gestikulierende Fragerei bei den im Bus sitzenden Deutschen. Resultat: Es ist der falsche. Alle wieder raus, es ist der nächste. Am Ziel angekommen, weist ein Schild mit der Aufschrift „Bahnhof“ die Richtung. Darüber mit Graffiti geschmiert das Wort „Asyl“. Wegweiser für die Migranten.

Mehrere Gruppen stehen schon an den Gleisen. Iraner, Iraker, Syrer. Sie alle stehen in kleinen Gruppen im Kreis zusammen, beraten, wie es weitergeht. Gegenüber den Gleisen befindet sich ein Mehrfamilienhaus. Im ersten Stock steht eine Frau rauchend vor dem geöffneten Fenster. „Geht das hier jeden Tag so?“ Weitere Erklärungen sind nicht nötig. Sie weiß, was gemeint ist. „Ja, jeden Tag.“

Über einen das gesamte Erstaufnahme-Gelände umschließenden Metallzaun hinweg kommen wir mit einem Nigerianer ins Gespräch. Er war vor drei Tagen in die Einrichtung gebracht worden und wartet nun auf seine Weiterverteilung. Gekommen nicht über Weißrußland, sondern über Italien. „Ventimiglia?“ „Ja, Ventimiglia. Dann Frankreich, dann Deutschland“, bestätigt der Mann den Umstand, daß neben den in diesem Jahr knapp 9.000 Migranten, die über Polen kommend nach Deutschland eingesickert sind, derzeit fast zehnmal so viele über die zentrale Mittelmeer- und Balkanroute nach Italien gelangen. Das Ziel vieler davon ist ebenfalls Deutschland.

Foto: Arabische Migranten versuchen am Montag nachmittag massenhaft, die polnische Grenze mit Baumstämmen niederzureißen: „Hybrider Angriff gegen Polen“