© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/21 / 12. November 2021

Illegal – aber alle machen es
Zurückweisungen von illegalen Migranten: Brüssel verurteilt Pushbacks, kann sie aber kaum stoppen
Jörg Sobolewski

Said M. hat Pech, er hat in dem Spiel der illegalen Migration auf die falsche Karte gesetzt. „Unser Schlepper hat uns an die Grenze zu Litauen gebracht. Er sagte, er habe Informationen darüber, daß man uns dort eher über die Grenze lassen würde. Aber als wir endlich aus dem Wald herauskamen, wurden wir von Polizisten eingesammelt, die uns wieder zurück an die Grenze gefahren haben. Jetzt sind wir wieder in Minsk.“

So schreibt der junge Iraker auf einer FacebookGruppe, in der Migranten ihre Erfahrungen austauschen. Dabei war der Entschluß, den Grenzübertritt an der litauischen Grenze zu versuchen, nachvollziehbar. Anders als die Regierung in Warschau versucht man in Wilna, es sich nicht allzusehr mit den Westeuropäern zu verscherzen. Wo Polen auf den offenen Konflikt mit der EU setzt, versucht sich Litauen in sorgfältiger Diplomatie hinter den Kulissen. Das baltische Land wirkt so weniger martialisch als die betont breitschultrig auftretenden Polen. Pushbacks, Zurückweisungen, so das Kalkül einiger Schleuser, seien beim europäischen Musterschüler Litauen daher weniger wahrscheinlich. 

Doch seit dem 4. August dieses Jahres betreibt man auch im Baltikum die Praxis des grenznahen Rücktransports aufgegriffener illegaler Einwanderer. Anders als in Polen, Griechenland oder Spanien bleibt Litauen dabei bisher vom Zorn menschenrechtsbewegter Kreise in Westeuropa verschont. Die Regierung von Premierministerin Ingrida Šimonytė besteht aus moderaten und liberalen Kräften mit besten Beziehungen nach Westeuropa. 

Sie eignet sich nicht als rechtskonservatives Schreckgespenst, was vielleicht die erstaunliche Nachsicht mit dem Vorgehen litauischer Grenzschützer erklärt. Mittlerweile schafft Litauen Fakten. Ein vier Meter hoher Grenzzaun soll künftige Pushbacks überflüssig machen. Bis zu seiner Fertigstellung werde man aber weiter so verfahren. Eine Aussage, die eine leichte Rüge von der UNHCR einbringt, die aber auch Verständnis für die Lage des Landes aufbringt. Schließlich befinde sich „Litauen in einer völlig neuen Lage. Wirklich verantwortlich seien jene, die „Migranten zur politischen Einflußnahme“ mißbrauchen würden. Ein Verweis auf den eigentlichen Verursacher der Krise, Weißrußlands Diktator Lukaschenko. 

Der Nachbar im Süden kann auf so viel westliche Gnade nicht hoffen. Polen kündige mit seinen Pushbacks einen „europäischen Grundkonsens auf“, schreibt die deutsche taz. Die Lobbyorganisation „Pro Asyl“ versteigt sich sogar zu der Aussage, mit jedem polnischen Pushback sterbe „ein Stück Europa“. Vom Europarat bis zur EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, hagelt es Kritik an der Regierung in Warschau, aber auch in Richtung  Kroatien, Griechenland und Rumänien. 

Vor allem Johansson ist stets besorgt. „Pushbacks sollten niemals normalisiert werden. Pushbacks sollten niemals legalisiert werden“, erklärt die sozialdemokratische schwedische Politikerin bei jeder Gelegenheit. 

„Die Kommission lehnt jegliche Pushback-Praktiken entschieden ab und hat wiederholt betont, daß solche Praktiken rechtswidrig sind. Die nationalen Behörden sind dafür verantwortlich, alle Vorwürfe zu untersuchen, um den Sachverhalt festzustellen und etwaige Fehlverhalten angemessen zu verfolgen“, so ein Sprecher der EU-Kommission im Oktober. 

Da es aber nicht so läuft, wie es sich die Kommission vorstellt, betont Brüssel die Wichtigkeit der Umsetzung des von der Kommission Ende 2020 vorgestellten neuen Migrations- und Asylpaktes. Dessen vorgeschlagener unabhängiger Grenzüberwachungs-Mechanismus sei ein „entscheidender Schritt, um Grundrechtsverletzungen an den Außengrenzen zu verhindern“.

Über den Pullback erregen sich weniger Gemüter

Dabei ergibt eine Stichwortsuche, daß Pushbacks – also das gezielte Aufgreifen illegaler Migranten im Grenzraum und die anschließende Verbringung über oder an die Grenze – keineswegs global so gesehen werden wie in Westeuropa. 

Australien fährt seit Jahren eine restriktive Politik, was illegale Einwanderung per Boot angeht. Im Rahmen der Operation „Sovereign Borders“ („Souveräne Grenzen“) werden Schmugglerboote abgefangen und, sofern noch funktionstüchtig, aus australischen Gewässern in internationale Gewässer zurückgeschleppt. Sollten die Boote nicht mehr funktionstüchtig sein, werden Schiffbrüchige in Aufnahmezentren außerhalb Australiens verbracht. „Die Operation Sovereign Borders ist der größte Erfolg im Bereich der nationalen Sicherheit“, so Premier Scott Morrison. Aus Sicht der australischen Regierung von einer Verletzung des Völkerrechts keine Spur, die Aufgegriffenen würden ja in Sicherheit gebracht. 

Eine Sichtweise, der sich der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages nicht völlig anschließen will. In einem mehrseitigen Dossier zu den umstrittenen Pushbacks an der griechischen Grenze definieren die Experten des Parlaments mehrere unterschiedliche Formen einer Zurückweisung „an“ oder „über die Grenze“. Die „Kollektivausweisung“ etwa, die pauschale Aufenthaltsbeendigung von Ausländern ohne Ansehung des Einzelfalls. Eine solche ist im vierten Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) explizit verboten. Auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) untersagt eine solche Behandlung irregulär Einreisender. 

Im vorliegenden Fall hat die griechische Regierung aber das vierte Zusatzprotokoll nicht ratifiziert und die GrCH bindet lediglich die Organe der Europäischen Union. Eine fehlende „rechtliche Bindung“ also, die ein rechtliches Vorgehen unmittelbar Betroffener, also abgeschobener Ausländer, gegen Griechenland an dieser Stelle erschweren würde. Ein anderer Fall läge aber beim sogenannten „Refoulementverbot“ vor. 

Dieser in der Genfer Flüchtlingskonvention festgehaltene Grundsatz begründet das Verbot „aufenthaltsbeendender Maßnahmen“ bei drohender Folter oder „unmenschlicher Behandlung“ in dem Land, in das eine Zurückweisung erfolgen soll. Diesem Verbot, so der wissenschaftliche Dienst, unterliege Griechenland durchaus – schließlich gehört Griechenland zu den Erstunterzeichnern der Konvention.

Ebenfalls zu den Unterzeichnerstaaten gehört die Türkei. Deren Regierung wirft wiederholt dem westlichen Nachbarn „illegale Pushbacks“ vor, scheut aber selber nicht vor einem ähnlichen Vorgehen an der iranisch-türkischen Außengrenze zurück, wie etwa die NGO „Human Rights Watch“ beklagt. Illegal Einreisende aus dem Iran würden von türkischen Polizisten „geschlagen, ausgeraubt und zurückgeschickt“, wie die Organisation in einem Statement vom Oktober beklagt. 

Ankara reiht sich damit ein in die lange Schlange von Regierungen die, mehr oder weniger offen, genau solche Pushbacks durchführen, die sie bei ihren Nachbarn kritisieren. Israel etwa, das seit dem Bau einer befestigten Grenzanlage zwar deutlich weniger illegale Grenzübertritte registriert, auf diese jedoch weiterhin deutlich reagiert, wie ein im Grenzeinsatz eingesetzter Soldat gegenüber der israelischen NGO „Helpline“ zu Protokoll gibt: „Unser Bataillonskommandeur machter deutlich, wir sollten auf Terroristen, Drogenschmuggler und Ausländer achten. Niemand darf über den Zaun.“ In Jerusalem kann man sich bei der Durchführung des Pushbacks auch auf die Mitwirkung der ägyptischen Seite verlassen: „Wir rufen die Ägypter an, und die erledigen die Drecksarbeit für uns.“ Eine solche Kooperation zwischen den beiden beteiligten Ländern wird unter Experten auch „Pullback“ genannt. 

Linke und Rechte setzen EU-Kommission unter Druck

Linke NGOs werfen der EU vor, inoffiziell mit der mit europäischen Mitteln ausgestatteten libyschen Küstenwache eine ähnliche Abmachung getroffen zu haben – allein im Zeitraum vom 31. Oktober bis 6. November wurden nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM Libya) 1.085 Migranten auf See „gerettet/abgefangen“ und nach Libyen zurückgebracht.

Es gilt als offenes Geheimnis, daß gerade die Grenzstaaten der EU gern ein deutlich offensiveres Vorgehen gegen illegale Migration durch die Unionsbehörden sehen würden. So hat etwa die litauische Regierung eine Änderung der Gesetzeslage ins Spiel gebracht. In „Extremsituationen und wenn Migranten als politische Waffe genutzt werden“, sollen Pushbacks auch für EU-Organe wie die Grenzschutzagentur Fronte, erlaubt werden, so die litauische Innenministerin Agne Bilotaite.

Unterstützung für den Vorstoß „komme nicht nur aus Polen“, so der Vizepräsident der EU-Kommission Margaritis Schinas. Hinter vorgehaltener Hand wird auch aus Spanien Unterstützung signalisiert. 

Die Mitte-Links-Regierung unter Pedro Sánchez hatte nach einen massenhaften Grenzübertritt illegaler Einwanderer im Mai dieses Jahres mehrere Pushbacks durchgeführt. Abgeschoben wurden dabei nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder. Eine Praxis, die eine Gericht in Madrid für illegal erklärte, sehr zum Unwillen des Regierungschefs der ankündigte, „weiterhin abschieben zu wollen“.

Dennoch dürfte sich an der zurückhaltenden Politik der EU bis April 2022 fürs erste nichts ändern. Denn in Frankreich stehen Wahlen bevor, die möglichst nicht von Migrationsdebatten überschattet werden sollen. Einer der wichtigsten europäischen Staatschefs, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, drückt bei dem Thema europapolitisch auf die Bremse. Eine aufgeheizte Debatte rund um mit europäischer Hilfe durchgeführte Pushbacks an den europäischen Außengrenzen könnte der Kampagne des rechten Herausforderers Eric Zemmour in die Hände spielen. 

Der Überraschungskandidat und Hoffnungsträger der französischen Rechten liegt in Umfragen zwar deutlich hinter dem Amtsinhaber, aber auch klar vor Marine Le Pen, der bisherigen Kandidatin der französischen Rechten. Der wortgewandte Schriftsteller Zemmour, so das Kalkül von Macron, solle nicht noch durch eine Migrationskrise profitieren. Auch wenn das hieße, daß Brüssel in der aktuellen prekären Lage fürs erste untätig bleibt. 

Doch gerade der Druck aus dem EU-Parlament  wird größer. Von links und von rechts. „Hört die Rechtsstaatlichkeit an unseren Grenzen auf?“ fragt Tineke Strik von der Grünen-Fraktion. Die EU-Kommission habe die Grenzstaaten dazu „ermutigt, Verweisungen zur täglichen Praxis“ zu machen, so die Niederländerin. „Ich weiß, daß ihr Pushbacks  verurteilt, aber es ist notwendig, den Worten Taten folgen zu lassen. Wir fordern Sie auf, Menschenrechtsverletzungen zu stoppen, Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten und dafür zu sorgen, daß Frontex Verweisungen verhindert, anstatt sie zu unterstützen“, betont die Linksgrüne.

Pushbacks sind an den Außengrenzen der EU notwendig, meint dagegen der Europaabgeordnete Tom Vandendriessche (Vlaams Belang, ID-Fraktion). „Wenn wir mit einem Massenzustrom von Migranten konfrontiert sind, der durch die EU aktiv gefördert wird, sollte eine legale Zurückweisung an den Außengrenzen der EU möglich sein“, erklärt der Flame. 

„Die derzeitige EU-‘Strategie’, wonach jeder, der die EU-Außengrenzen erreicht, einen Asylantrag stellen kann, ist eindeutig keine Antwort auf das aktuelle Problem. In diesem Jahr wurden rund zwei Drittel der Asylanträge abgelehnt. Die meisten haben überhaupt kein Recht auf Schutz und halten sich illegal auf“, so Vandendriessche. „Wenn die EU die illegale Migration stoppen will, muß sie ihre Außengrenzen schließen.“ Auch der flämische Politiker verweist darauf, daß mehrere EU-Mitgliedstaaten bereits eine Einigung in puncto Zurückweisungen erzielt hätten.

Foto: Polen protestieren Mitte Oktober in Warschau gegen die Migrantenpolitik der Regierung: Stoppt die inhumanen Pushbacks an der weißrussischen Grenze; Protest an der kroatisch-bosnischen Grenze: NGOs, auch aus Deutschland, blockieren im Juni 2021 den Grenzübergang bei Maljevac