© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/21 / 12. November 2021

Der evangelische Patient
Die EKD-Synode wählte einen neuen Ratsvorsitzenden. Jetzt müssen die Mißbrauchsfälle aufgeklärt werden
Gernot Facius

Zum Abschied vom Amt des Ratsvorsitzenden der EKD war er nochmals omnipräsent: Heinrich Bedford-Strohm (61) bespielte alle medialen Kanäle mit seiner Diagnose des Zustands des deutschen landeskirchlichen Protestantismus. Er gab sich nachdenklich, ja zerknirscht; er zeigte sich auch in seinem Synoden-Bericht unzufrieden mit dem Stand der „Aufarbeitung“ von sexueller Gewalt: „Wir haben hier das Vertrauen vieler Menschen verloren, und es ist uns bisher nicht gelungen, es in ausreichendem Maße zurückzugewinnen.“

Das ist, schaut man auf die Zahlen der Statistiker, noch untertrieben. Die Kirchen der Reformation schreiten seit langem durch ein finsteres Tal, und noch immer leuchtet kein Licht der Hoffnung. In der sechsjährigen Amtszeit von Bedford-Strohm haben mehr als 1,3 Millionen Mitglieder die EKD verlassen. Werde nun die Synode als Aufsichtsorgan die Frage stellen, warum unter Bedford-Strohm fast 500.000 Protestanten mehr ausgetreten sind als etwa in der Zeit, in der Bischof Wolfgang Huber (Ende 2003–2009) als Ratsvorsitzender amtierte? fragte Helmut Matthies von der evangelischen Nachrichtenagentur idea. „Wenn die EKD sich nicht bald zu einer Reformation an Haupt und Gliedern entschließt, wird man die Abkürzung bald so deuten müssen: Ehemalige Kirche in Deutschland.“

Vor allem in der Corona-Zeit läßt sich der Bedeutungsverlust nicht länger verschweigen. Das sieht auch Bedford-Strohm so: „Es ist uns nicht gelungen, in den medialen Lagerfeuern der Nation – in den Talkshows oder in den Sondersendungen – mit den Worten des Trostes und der Orientierung vorzukommen, die wir auf unseren eigenen Kanälen die ganze Zeit gesprochen haben.“

Sexuelle Gewalt in der evangelischen Kirche

Das ist allerdings nur ein Aspekt. Das Thema sexualisierte Gewalt hat bei den Evangelischen einen so großen Stellenwert in der öffentlichen Darstellung der Kirche bekommen, daß „all das Gute, all die engagierten Menschen, die sich mit viel Liebe für andere einsetzen, völlig in den Hintergrund tritt“ (Bedford-Strohm). Bislang stand der Mißbrauch in der katholischen Kirche in den Schlagzeilen, nun müssen sich auch die Protestanten mit dieser Problematik auseinandersetzen. Von 942 bekannten Fällen ist die Rede. Die Ursachenforschung, das zeigte sich ganz deutlich während der wegen Corona-Fällen nur digital möglichen Synode, steht bei ihnen noch am Anfang. „Wir sind noch nicht so weit gekommen, wie wir wollten. Wir sind mitten in einem umwälzenden Kernprozeß, und es liegt noch ein langer Weg vor uns.“

Bei den Katholiken gilt als entscheidende Ursache für den Mißbrauch das streng hierarchische Machtsystem, in dem allein Männer das Sagen haben und der Zölibat. All das trifft auf die evangelische Kirche nicht zu, sie muß sich mit anderen Gefahrenquellen auseinandersetzen. „Wir sind ja stärker demokratisch organisiert, nahbarer vielleicht, und das kann dazu führen, daß Menschen, die Verantwortung tragen, Grenzen überschreiten“, suchte der scheidende Ratsvorsitzende die Gefahrenzone auszuleuchten. Die bisher bekannten Fälle zeigen demnach, daß in evangelischen Gemeinden weniger Kinder als vielmehr Jugendliche, die älter als 14 Jahre sind, mißbraucht worden sind.

Das Thema „Aufarbeitung“ war Chefsache, es wird auch den neuen Rat beschäftigen. Gesucht wird nach einem Verfahren, bei dem man auch verstärkt auf Unterstützung von außerhalb der Kirche hofft. Das ist neu. Die EKD hatte im Frühjahr die Arbeit des von ihr eingerichteten „Betroffenenbeirats“ nach Konflikten ausgesetzt; sie sieht sich nun mit Vorwürfen konfrontiert, die Angelegenheit nicht ernst genug zu nehmen. Katharina Kracht, Mitglied des vorerst suspendierten Betroffenenbeirats, warf der Leitung ihrer Kirche vor, das Thema Mißbrauch „sieben Jahre lang verschlafen“ zu haben. Betroffene, so lautete ihre Forderung, wollten eine „reale, angemessene, transparente und nachvollziehbare Anerkennung ihres Leids“. Das werde aber durch die EKD-Musterordnung nicht geleistet. Stattdessen versuchten die Landeskirchen, die „ausgezahlten Summen durch Tricksereien gering“ zu halten, indem Betroffene unter Druck gesetzt würden und ein institutionelles Versagen nachweisen müßten. Die Bedingungen, unter denen vom Mißbrauch Betroffene an der Synode beteiligt würden, seien mehr als fragwürdig. So hätten sie ihre Beiträge zuvor „zum Gegenlesen“ abliefern müssen. Harte Vorwürfe gegen eine Kirchenleitung, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre geschwisterliche Gesinnung hervorhebt.

Doch nicht nur das. Beklagt wurde zu wenig Unterstützung bei der Bildung von Netzwerken. Während die katholische Kirche sich einem hohen öffentlichen Druck ausgesetzt sehe, versuche die evangelische Kirche weiter „den Mythos“ zu verbreiten, es handele sich um Einzelfälle. Konnte es da verwundern, daß der Ruf nach einer Art „Wahrheitskommission“ laut wurde.

„Seenotrettung“ und Umgang mit dem Islam bleiben umstritten

Umstritten ist zudem noch immer die vom Rat unterstützte „Seenotrettung“ im Mittelmeer. „Als politisches Statement der EKD in dieser Einseitigkeit sehe ich das überaus kritisch“, sagte die FDP-Politikerin Linda Teuteberg, die der Synode angehört. Und sie steht mit dieser Meinung nicht allein. Das Thema wird die Kirche noch lange beschäftigen. Wie auch der Umgang mit dem Islam.  Bedford-Strohm zeigte sich zwar „bestürzt“ über die Schändung einer evangelischen Kirche im thüringischen Nordhausen durch einen afghanischen Asylbewerber, fügte aber hinzu, das Ereignis sei „nicht Ausdruck des Charakters des Islam, sondern seiner Pervertierung“. Zwischen dem Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland und der EKD sei viel Vertrauen gewachsen. Man dürfe nicht zuerst auf extremistische Haltungen schauen, sondern auf die große Mehrheit der hier lebenden Muslime, die friedlich, solidarisch und verantwortlich leben wolle. Ob mit dieser Argumentation die Bedenken in vornehmlich konservativen Kreisen der Kirche gedämpft werden können, darf bezweifelt werden. 

Die EKD hat derzeit auf mehreren Baustellen zu arbeiten. Der kurz vor Synodeneröffnung in den Ruhestand getretene theologische Vizepräsident der EKD, Thies Gundlach, hat schnörkellos erklärt, was aus seiner Sicht geschehen müßte, um die Zukunftsfähigkeit der Kirche zu bewahren: „Wir müssen zurückbauen. Wir sind in einer Transformation, in einem Übergang zu einer neuen Form von Kirche. Die Hauptaufgabe wird daher eine geistliche und spirituelle sein.“ Wie die Kirche überleben könnte, darüber hatte sich bereits 1999 der damalige Ratsvorsitzende Manfred Kock vor der Synode in Leipzig Gedanken gemacht: „Die ganze Kirche muß sich auf Mission umstellen.“ Und die Teilnehmer stimmten zu. Konsequenzen? Kaum. Nun muß die neue Ratsspitze ein ehrliches Konzept entwickeln, das der Kirche aus ihrem Tief heraushilft.

Als einzige Kandidatin für den Rat erreichte Annette Kurschus (58), seit 2011 Präses der westfälischen Kirche, schon im ersten Wahlgang die notwendige Zweidrittelmehrheit. Sie erhielt 108 von 146 Stimmen. Die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs (60) schaffte die Wahl in den Rat erst im zweiten Wahlgang. Ein ungeschriebenes Gesetz in der EKD besagt: Wer beim ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhält, wird traditionell auch für den Ratsvorsitz vorgeschlagen.

In ihrer Bewerbungsrede hatte die im nordhessischen Rotenburg (Fulda) geborene Pfarrerstochter und Thelogin Kurschus erklärt: „In unserer Kirche steht eine Erneuerung an, deren Radikalität wir erst zaghaft erahnen.“ Kurschus war Pfarrerin und Superintendentin des Kirchenkreises Siegen. Die Begegnungen mit pietistischen Gemeinden prägten bis heute ihr Verhältnis zu theologisch konservativen Protestanten. Anders als in manchen anderen Landeskirchen werden diese Gruppierungen in Westfalen respektiert. Bei Meinungsverschiedenheiten suche Kurschus nicht die öffentliche Auseinandersetzung, sondern das persönliche Gespräch, wurde ihr von evangelikaler Seite bescheinigt: „Eher nachdenkliche Theologin als Medienprofi.“ Ihren Predigten und Stellungnahmen höre man an, daß ihr der treffende theologische Ausdruck im Zweifel wichtiger sei als das schnelle Schlagwort.

Bei Redaktionschluß dieser JF-Ausgabe war die Wahl zum Leitungsorgan der EKD noch nicht abgeschlossen.

Foto: Bischof Heinrich Bedford-Strohm (M.), scheidender EKD-Ratsvorsitzender, im Bremer St. Petri Dom: „Wir haben hier das Vertrauen vieler Menschen verloren“