© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/21 / 12. November 2021

Visionen aus der Vergangenheit
Kino: „Last Night in Soho“ spielt gekonnt mit Filmgenres und wandelt sich vom Gute-Laune-Musical zum Gruselschocker
Dietmar Mehrens

Man könnte es durchtrieben nennen, wie Edgar Wright seine Zuschauer zum Narren hält. Wenn er in der ersten Szene von „Last Night in Soho“ seine hinreißende Hauptdarstellerin (Thomasin McKenzie) mit Audrey-Hepburn-Charme durch ihr Kinderzimmer tanzen läßt und wenn sie gleich darauf ihrer Großmutter jubelnd verkünden darf: „Ich gehe nach London! Ich gehe nach London!“, dann kann der Zuschauer mit einigem Recht daran glauben, daß er sich mit dem Lösen der Kinokarte auf ein adrettes Adoleszenz-Amüsement im Stil von „An Education“ (2009) eingelassen hat: junges Mädchen erkundet die große Stadt und erobert sich Schritt für Schritt ihren Platz im Dasein.

Der Eindruck verfestigt sich, als die junge Frau, die Eloise oder kurz Ellie heißt und sich in der britischen Metropole zur Modeschöpferin ausbilden lassen möchte, sich plötzlich im „swinging London“ der sechziger Jahre wiederfindet: Musik- und Tanzeinlagen erzeugen Musical-Atmosphäre. Petula Clarks „Downtown“ und Barry Ryans „Eloise“ werden zu den kongenialen Hymnen für Ellies Start ins Leben.

Visuelle und thematische Anleihen bei einem Hitchcock-Klassiker

Aber dann bekommt das Gute-Laune-Bild erste Risse: Daß Ellie plötzlich anfängt, sich als die extrovertierte Sandy (Anya Taylor-Joy) zu sehen, ist mehr als nur eine vorübergehende Flause im Rausch des Überschwangs. Es stellen sich immer mehr unheimliche Visionen ein. Schließlich tauchen merkwürdige graue Herren auf, die sich nicht wie in Michael Endes „Momo“ damit begnügen, Zeit zu stehlen, sondern Ellie jeglichen Seelenfrieden rauben. Auch mit der Ruhe und Entspanntheit des Zuschauers ist es vorbei: Er erinnert sich daran, daß Ellie schon in ihrem Kinderzimmer eine Vision hatte, nämlich von ihrer Mutter, und daß diese sich aufgrund einer psychischen Erkrankung das Leben nahm, als Ellie sieben war. Hat die junge Studentin die psychotische Veranlagung der Verstorbenen geerbt? Warum färbt sie auf einmal ihre Haare Sandy-blond? Auch der nette Studienkollege, der sich rührend um sie bemüht, wird langsam nervös, als Ellie ihn fragt: „Glaubst du an Geister?“ Die Umworbene ist kaum noch von dem Gedanken abzubringen, daß es in dem Haus der freundlichen Miss Collins (Diana Rigg), in dem sie ihre Bleibe hat, spukt, daß Geister aus der Vergangenheit sie heimsuchen.

Gekonnt stattet Edgar Wright, der auch am Drehbuch mitschrieb, die wilde Sandy mit blonder Marilyn-Monroe-Mähne aus und inszeniert sie so als den perfekten Gegenpol zur dunkelhaarigen Ellie, die in ihrem Kinderzimmer ein Plakat des berühmten Audrey-Hepburn-Films „Frühstück bei Tiffany“ (1961) an der Wand hängen hat. Im Hintergrund läuft hier also noch ein anderer Film, eine Hommage an die sechziger Jahre, die Wright auch in seiner parallel im Kino laufenden Doku über die Sparks-Brüder (JF 41/21) im Visier hat.

Die visuellen und thematischen Anleihen bei „Marnie“ (1964), dem Hitchcock-Klassiker mit Sean Connery, und der letzte Auftritt der Sechziger-Ikone Diana Rigg („Mit Schirm, Charme und Melone“) geben Wrights kinematographischer Huldigung angesichts des unvorhersehbaren Zufalls, daß vor einem Jahr sowohl Connery als auch Rigg innerhalb weniger Wochen verstorben sind, einen unerwarteten filmhistorischen Reiz. Der Regisseur nutzt aber auch die technischen Möglichkeiten des Jahres 2021, um vor allem seinen grauen Herren ein gruseliges Erscheinungsbild zu geben. So verbindet „Last Night in Soho“ geschickt die Generationen: Während Ältere in dem Film die Sechziger-Reverenzen entdecken, können sich Jüngere von zeitgemäß inszenierten Schockeffekten und der Präsenz der Netflix-Ikone Anya Taylor-Joy („Das Damengambit“) fesseln lassen.

Kinostart ist am 11. November 2021

Foto: Eloise (Thomasin McKenzie) und Sandy (Anya Taylor-Joy): Unheimliche Visionen