© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/21 / 12. November 2021

Filmkritik I wie Ikarus
Einzeltäter oder Verschwörung?
Werner Olles

Mai 1977: Staatspräsident Marc Jary (Gabriel Cattand) wird von einem Attentäter erschossen, als er nach seiner Wiederwahl in einer offenen Limousine durch die Stadt fährt. In einem Bürokomplex nahe des Tatorts erschießt kurz darauf ein Unbekannter den mutmaßlichen Täter Karl Eric Daslow (Didier Sauvegrain) und erweckt  den Anschein, dieser habe sich nach dem Mord an dem Präsidenten selbst gerichtet. Die mit dem Fall betraute Untersuchungskommission kommt nach über einem Jahr Ermittlungen zu dem Schluß, daß der Politiker von dem Einzeltäter Daslow getötet wurde. Nur Generalstaatsanwalt Volney (Yves Montand) zweifelt an der These eines schizophrenen Einzelgängers. Er bekommt vom Vorsitzenden der Kommission den Hinweis, daß die Einzeltätertheorie von „ganz oben“ kam.

Volney nimmt die Ermittlungen wieder auf, und schnell gelangen etliche Ungereimtheiten ans Tageslicht. Beweise wurden gefälscht, Zeugen nicht vernommen, eine Autopsie unterlassen, und Augenzeugen starben plötzlich unter merkwürdigen Umständen. In einem Amateurfilm erkennt der Staatsanwalt einen zweiten Schützen, der jedoch ebenfalls inzwischen ermordet wurde. Volney geht jetzt von einem Mordkomplott aus, zu dem sich die Mafia und der eigene Geheimdienst verschworen haben. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Agent Carlos de Palma (Jean Négroni), der bereits früher an staatsterroristischen Aktionen beteiligt war. Doch Volneys Recherchen haben ihn der Wahrheit schon viel zu nahe gebracht …

Die Handlung von Henri Verneuils Polit-Thriller „I wie Ikarus“ (Frankreich 1979) lehnt sich eng an das bis heute ungeklärte Attentat auf John F. Kennedy und die Untersuchungen des Staatsanwalts Jim Garrison an. In Verneuils Film kommt Volney zu dem gleichen Ergebnis wie der reale US-Staatsanwalt: Der Präsident wurde Opfer einer skrupellosen Verschwörung. 

„I wie Ikarus“ wurde 1979 als bester französischer Film ausgezeichnet. Das intelligent und beklemmend realistisch angelegte Politdrama ist eine moderne Version der antiken Tragödie des Ikarus, der seine Flügel in der brennenden Sonne verliert, weil er der Wahrheit zu nahe kommt. Atmosphärisch straff inszeniert und grandios gespielt von Yves Montand, erwartet den Zuschauer eine Filmperle, die bis heute nichts von ihrer Faszination verloren hat.

Blu-ray: I wie Ikarus. Pidax-Filmklassiker 2021, Laufzeit etwa 123 Minuten