© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/21 / 12. November 2021

Das Mysterium der Schönheit
Eine hohe Schule des Sehens: Reinhard Liess’ „Streifzüge durch die klassische Kunstgeschichte“
Eberhard Straub

Unzeitgemäße Betrachtungen – wie etwa die Friedrich Nietzsches – erweisen sich oft als sehr zeitgemäß, weil sie veranschaulichen, wie notwendig es ist, nicht nur frei in der jeweiligen Zeit zu sein, sondern vor allem frei von ihr zu bleiben und nicht dem Druck der aufdringlichen Aktualität zu erliegen. Diese Erfahrung bestätigt der Kunsthistoriker und vor allem zum Schauen bestellte Kunstkenner Reinhard Liess in seinen drei Bänden „Streifzüge durch die  klassische Kunstgeschichte mit einer Kritik an Picasso“ – einem Werk geistiger Unerschrockenheit und Freiheit. Denn er handelt in den aufeinander bezogenen Einzelstudien, die alle zusammen ein wohlgeordnetes Ganzes bilden, von der Schönheit, von Anmut und Würde, vom Erhabenen und dem Pathos der Wahrheit, ehedem großen Mächten, gegen die sich die sogenannte Moderne empört, wie er mit Picasso exemplarisch veranschaulicht.

Die jeweils mit einem Block von Farbtafeln ausgestatteten Bände enthalten Reflexionen über den französischen Bildhauer Auguste Rodin, die Maler Peter Paul Rubens, Albrecht Dürer, Michelangelo, Tizian und Caravaggio, um nur einige wenige zu nennen, aber auch ein ebenfalls höchst lesenswertes Kapitel über die Gestaltung des Holocaust-Mahnmals in Berlin.

Ein Beispiel unterrichtet, viele Beispiele verwirren. Insofern ist Liess’ Kritik an Picasso eine Kritik der Moderne und der Zunftmeister der zeitgenössischen Kunstgeschichte, die von visueller Kommunikation reden und darüber den Künstler und das Kunstwerk aus den Augen verlieren, die klassischen Normen ohnehin für peinliche Mißverständnisse haltend, die uns nicht mehr narren und täuschen können. Allerdings beherzigten seit der Antike sämtliche Europäer die Aufforderung, das enge, dumpfe Leben hinter sich zu lassen und sich in des Ideales Reich emporzuschwingen, in dem wie in einer zweiten, höheren Erdenwelt die Schönheit herrscht und mit ihr die Freiheit in mannigfachen, unerschöpflichen Gestalten. Es waren die Künstler, die den Weg dorthin wiesen und das Mysterium der Schönheit deuteten, um jedem Willigen dazu zu verhelfen, in der jeweiligen stumpfen Zeitlichkeit nicht abzustumpfen und darüber die Vervielfachung seines inneren Wesens zu versäumen.

Die Schönheit war mit der Wahrheit verbunden

Reinhard Liess (Jahrgang 1937) teilt nicht die Selbstüberschätzung der „Jetztzeit“, wie er in Übereinstimmung mit Richard Wagner die Gegenwart nennt, das Ziel der Geschichte erreicht zu haben, endlich frei von Fiktionen zu sein, die es dem Menschen lange genug verwehrten, sich selbst zu erkennen und authentisch leben zu können in der Verantwortung für die Menschheit, die Welt und die Umwelt, die heilige Dreieinigkeit im Hier und Heute. Er verweigert sich diesem Glauben der allerneuesten Neuzeit. In Übereinstimmung mit einer Tradition, die weit zurückreicht in das klassische Griechenland, sieht er das Kunstschöne nicht unhistorisch, aber den Launen des flüchtigen Augenblicks entrückt, verbunden mit einer Wahrheit, die nicht klug für ein andermal, sondern weise für immer machen wollte, um Wendungen Jacob Burckhardts aufzugreifen, eines Kultur- und wahren Kunsthistorikers, der Kunst und Wahrheit gar nicht getrennt voneinander verstehen konnte. Reinhard Liess folgt diesem Meister.

Die Schönheit war für zweieinhalb Jahrtausende mit der Wahrheit verbunden, die – in deren Glanz gehüllt – für Klarheit im Labyrinth der Brust des Künstlers wie des Kunstbetrachters sorgte und alles Häßliche, alles Gemeine überwand und in öffentlichen Institutionen um seine schädliche Macht brachte. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts empörten sich ausgerechnet Künstler gegen diese Ideen, die sie als Lebenslügen und Illusionen entlarven wollten. Mit ihrer skythischen, radikalen Wut beschleunigten sie ohnehin immer lauter auftretende, unterschiedliche Bewegungen, sich von den Alten zu lösen, die Tyrannei der Griechen und der klassischen Traditionen abzuschütteln und lieber frisch-fröhliche Barbaren zu werden, statt sich weiter Vorschriften zu beugen, die überall uneingeschränkter Selbstverwirklichung im Wege standen.

Der würdige, gefaßte Tod verleiht auch dem Sterbenden Glanz

Die Schönheit wurde als störende und ärgerliche Antiquität aus dem Leben vertrieben und alsbald der nicht minder antiquierte Mensch, der sich ohne deren Schutz zunehmend hilflos darein fügte, jenseits von Freiheit und Würde, an seinem Büschel Wohlstand kauend, als Systemelement gut zu funktionieren und den systemrelevanten Kräften Freude zu bereiten. Die Kunst und der Künstler, immer dem Menschen und der Schönheit verpflichtet, nicht Systemen, wurden darüber fragwürdig und überflüssig, und nicht zuletzt die Natur, die Vorlage und Anregerin für das Kunstschöne.

Das begnügte sich sich keineswegs mit bloß gefälligen, dekorativen Formen, denn seine wichtigste Triebkraft war die Phantasie, die zu allen Zeiten als eine Gabe der Götter oder Gottes gewürdigt wurde und deshalb der reinen Subjektivität und beliebigen Ausdrucksfreude entzogen blieb. Sie ermöglichte es, Inneres zu veräußerlichen, Gedanken in Gestalten zu fassen, so daß ein dargestelltes Inneres in Sinnbildern wie eine Offenbarung wirkte.

In der bewußten Abkehr von diesen Vorstellungen wurde die Kunst sprachlos, ihr kamen Bilder und Gedanken abhanden, die über die Anschauung lebendige Gegenwart gewannen und mit geistiger Macht Seele, Gemüt und die spekulative Vernunft ergriffen. Auch der Tod und das Sterben brachten das Schöne nicht um seine alles ordnende und mit Sinn erfüllende Kraft. Ein Leitmotiv von Reinhard Liess ist der würdige, gefaßte Tod, der auch dem Sterbenden Glanz, Würde, eben Schönheit verlieh, ob dem Laokoon, der Sterbenden Niobide, der verletzten Amazone oder der zentralen, klagenden Mutter im Bethlehemitischen Kindermord des Peter Paul Rubens. In der schönen Haltung bestätigt sich die innere Freiheit, die gottgedachte Spur, die gerade den hinfälligen Körper im Augenblick seines Ablebens zum Gefäß des Triumphes über den Tod erhebt, der den sittlichen Menschen nicht zu überwältigen vermag.

Ganz anders als bei Picassos Gemälde „Guernica“, das an die Opfer beim Luftangriff auf diese baskische Stadt während des Spanischen Bürgerkrieges 1937 erinnert. Trotz allerlei Fragmente aus Natur und Wirklichkeit bleibt es bei einer rein formalen Konstruktion, klug durchdacht, virtuos und meisterlich, die den Kunstverstand beschäftigt, aber keinen moralischen Unterricht im Sinne der klassischen Dramatiker und Maler erteilt. Die zahlreichen Erklärungen und Deutungen widersprechen sich, nicht weil das Bild so beziehungsreich und unerschöpflich ist, sondern weil es stumm bleibt und gar nicht zu Menschen redet von Menschen und ihrer besonderen Geschichte. Trotz aller Monumentalität und ästhetischer Kunstfertigkeit repräsentiert es die Leere und Sinnlosigkeit einer Kunst, die nicht mehr zu reden versteht, auch gar nicht auf die Macht sinnvoller Bilder vertraut. Nur wer weiß, was Guernica bedeutet, wird sich aufgefordert sehen, sich etwas unter dem Eindruck des Bildes zu denken und die Leere mit Sinn zu füllen. Der Betrachter wird auf diese Weise zum Mitschöpfer, in ihm vollendet sich das Kunstwerk als Bedeutungsträger, je nach seiner Fähigkeit und Lust zu kombinieren.

Angsthasen und Hypochonder fürchten sich vor dem Schönen

Das Häßliche wurde gar nicht vor der „modernen Kunst“ vermieden oder verniedlicht. Reinhard Liess beschäftigt sich ausführlich mit Goyas Schreckensszenen aus dem Guerillakrieg der Spanier mit den französichen Invasoren ab 1808. Es sind die schaurigsten Bilder, die illusionslos schildern, wie Menschen einander quälen und zerfleischen, das Wahre, Schöne und Gute, das sich im Ebenbild Gottes offenbaren soll, martern und vernichten. Dennoch: Das letzte Wort und die letzten Bilder gelten dem Triumph des Schönen, das ein und das gleiche ist wie das Wahre, erfüllt von dem Glanz der göttlichen Wahrheit, die aufersteht und die von jeder Vernunft verlassenen, von ihren Leidenschaften aufgeregten Menschen den möglichen Weg zurück weist zur Freiheit in Ordnung mit wohltätigen Proportionen.

Das hat nichts mit der Flucht in eine „heile Welt“ zu tun. Ob klassische Griechen, Römer oder Christen – sie alle wußten, daß die Welt als Geschichte ein Schauplatz des Elends, der Grausamkeit und des Unheils ist und bleiben wird. Gerade deshalb beschworen sie die Schönheit, die eins mit den Göttern oder Gott, hinüberleitet in die Freiheit, die der Mensch auch hier in dieser Welt voller Arglist und Täuschungen finden kann, wenn er der Vernunft, der göttlich-erhellenden, vertraut. Reinhard Liess analysiert und beschreibt, wieviel Mut dazu gehört hat, nicht vor dem Häßlichen zu verzagen und in ihm das „Authentische“ zu sehen. Denn Angsthasen und Hypochonder fürchten sich vor dem Schönen, vor dem Erhabenen und der Kraft, auch in der Niederlage der Sieger zu bleiben über Tod und natürliche Vernichtung. Die klassische Kunst bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg wandte sich an solche, die sich der klassischen virtus romana verpflichtet fühlten, die in den christlichen Tugenden der Römischen Kirche fortlebte. Es gab viele Möglichkeiten, das Schöne und Wahre zu vergegenwärtigen, die klassischen Normen zu befolgen. Wagners Hans Sachs spricht davon über Walther von Stoltzings sonderbares Lied sinnierend: Es klang so alt – und war doch so neu.

Reinhard Liess ist gar kein Kulturpessimist oder Kulturkritiker, wie all jene gescholten werden, die als gebildete Skeptiker die Jetztzeit nicht für das erreichte Ziel der Geschichte feiern möchten, obwohl gerade Künstler ununterbrochen schildern, wie häßlich und unfroh, trostlos und niederdrückend die Existenz in der freien Welt des alle befreienden Westens ist. Reinhard Liess möchte im Sinne Goethes die Leser dazu aufordern, ihre Augen zu öffnen, sich auf Bilder einzulassen und zu lernen,  in einem hohen Sinne zum Schauen geboren und zum Sehen bestellt zu sein. „Der Nervosität unseres flüchtigen Wahrnehmens setzt Liess eine tiefdringende Akribie entgegen, die nur lustvoll genannt werden kann“, schreibt der Kunsthistoriker Thomas Gädeke treffend in seinem Nachwort.

Die Streifzüge sind eine hohe Schule des Sehens und Verstehens ganz im Sinne Jacob Burckhardts, dem denkenden Menschen gerade in Zeiten des allgemeinen Knirpstums, der Zerfahrenheit und Zerstreuung dazu zu verhelfen, im Offenhalten des Geistes für jede Größe und Schönheit eine der wenigen Bedingungen des höheren geistigen Glückes zu erkennen.

Reinhard Liess: Streifzüge durch die klassische Kunstgeschichte mit einer Kritik an Picasso. Bd. 1-3, Verlag Schnell & Steiner, Regensburg 2021, gebunden, 1.695 Seiten, 95 Farbtafeln, 99 Euro

Foto: Pablo Picasso, Guernica, Öl auf Leinwand  1937: Das Gemälde erteilt keinen moralischen Unterricht, es bleibt stumm