© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/21 / 12. November 2021

Hilfen gegen die Weißwaschung
Mit Isabel Hull ehrt das Hamburger Reemtsma-Institut eine Verfechterin des deutschen Sonderwegs in die „Kolonialschuld“ – und pflegt zugleich die eigenen Geschichtsmythen
Oliver Busch

Coronabedingt etwas verspätet erhielt die US-Historikerin Isabel V. Hull im Mai 2021 den Siegfried-Landshut-Preis des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS). Zum Festakt versammelte sich, wie jetzt die Hauszeitschrift des Instituts dokumentiert (Mittelweg 36, 4/2021), wer zur kulturpolitischen Deutungselite zählt und wer sich diese Gelegenheit nicht hat entgehen lassen, um Gesicht zu zeigen und Bekenntnis abzulegen. Jan Philipp Reemtsma, Institutsgründer und omnipotenter Vorstand der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, ist dabei, der Soziologe und HIS-Direktor Wolfgang Knöbl, ebenso der grußwortende Carsten Brosda (SPD), Senator für Kultur und Medien in der Freien und Hansestadt, sowie die Göttinger Historikerin Rebekka Habermas, die die Laudatio übernommen hat.

Isabel V. Hull, eine ältere Dame, letzte Mohikanerin aus den Schülerzirkeln jener deutsch-jüdischen Emigranten, die es, wie ihr Mentor George L. Mosse, verstanden, dem Studium der jüngeren deutschen Geschichte enorme Anziehungskraft zu geben, forscht und lehrt seit den späten 1970ern an der Cornell University (New York), wo sie 1992 zur Professorin im Department of History aufrückte und somit, wie Habermas betont, „an einer Ivy League University eine der wichtigsten Professuren des Landes für deutsche Geschichte innehatte“. 

Der Landshut-Preis zeichnet Hulls Lebenswerk aus. Doch das geschichtspolitische Hauptmotiv, sie gerade jetzt und gerade in Hamburg zu ehren, lieferte den Preisverleihern ihre 2005 veröffentlichte Studie „Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany“. Das Buch thematisiert den „Kolonial- und Vernichtungskrieg“ der deutschen Armee gegen die Herero und Nama im Schutzgebiet Deutsch-Südwestafrika und verficht die These, daß eine spezifisch deutsche militärische „Organisationskultur“, die in den Kategorien von „Entscheidungsschlacht und absoluter Zerstörung“ des Feindes agierte, den Völkermord ermöglichte.

Welch wertvolles Geschenk Hull damit ihren Gastgebern macht, wird in deren Lobreden schnell klar. So weiß es Wolfgang Knöbl, der bedauert, daß „Absolute Destruction“ immer noch nicht ins Deutsche übersetzt ist, „gerade jetzt, in Zeiten, in denen in Teilen der Historikerschaft eine Art Weißwaschung des Deutschen Kaiserreichs betrieben wird“, als „argumentationsstarke Gegenposition“ sehr zu schätzen. Zumal es auch Wichtiges zur Debatte um den „Zusammenhang von kolonialem Genozid und Holocaust“ beitragen könne. In überglücklichem Schuldstolz preist es Senator Brosda, weil Hull helfe, den Anspruch zu untermauern, der „Völkermord“ in Deutsch-Südwest sei von der „Kolonialmetropole“ an der Elbe ausgegangen. „Hier in Hamburg“, wo man „tief verstrickt“ gewesen sei in die „Verbrechen der Kolonialzeit“, ist der „Genozid an den Nama und Herero“ angeblich „geplant“ worden, „die beteiligten Truppen wurden von hier aus verschifft“. Lange habe man sich dieser Vergangenheit nicht gestellt. Das ändere sich, auch dank Hulls inspirierender Forschung, die sich nahtlos einfüge in das in Eckpunkten bereits festgeklopfte „postkoloniale Erinnerungskonzept“ der Stadt und in die vom Senat geförderte „systematische Aufarbeitung“ des schrecklichen kolonialen Erbes. 

Ausweitung und Intensivierung der „Schuldkultur“ 

Hull bedient also optimal neue Sinnstiftungsbedürfnisse der politischen Klasse, die nach einer Ausweitung und Intensivierung der „Schuldkultur“ giert. Shoa-Schuld, Kriegsschuld, Kolonialschuld, und am Horizont dräuet schon die deutsche „Klimaschuld“, wenn Greta Thunberg auf der Glasgower Weltklimakonferenz, Seite an Seite mit der zum Reemtsma-Clan gehörenden „Umweltaktivistin“ Luisa Neubauer, soeben der Bundesrepublik eine „besondere Verantwortung“ für die Erwärmung der Erdatmosphäre zuschiebt. 

Obwohl Isabel Hull also mitten im Strom des Zeitgeistes schwimmt, strengt sich Rebekka Habermas an, ihre Kollegin als notorische Nonkonformistin, als „wagemutige Historikerin“ zu verkaufen. Auch diese ulkige Charakteristik verrät, daß die Ehrung Hulls stets zugleich der Inszenierung des eigenen Selbstverständnisses dient. Doch „Routinen, Praktiken, Habitusformen“ (Knöbl) solcher öligen Zeremonien sind nicht zuletzt deshalb weitgehend unerforscht, weil die Teilnehmer es mit der am liebsten anderen abgenötigten „Selbstaufklärung“ (Brosda) nicht übertreiben wollen. Die Fassade des geistig Unabhängigen und Herrschaftskritischen will das akademische Establishment schließlich nur zu gern wahren. Und während man Drittmittel für Geschlechter- und Migrationsforschung oder ähnliche pseudowissenschaftlichen Sherpa-Dienste in Hülle und Fülle einstreicht, erklingt unter der Dusche dieses warmen Regens der Hymnus auf die „immer neue, überraschende Themen“ auftuende, unbequeme „radikale Neugier“, mit der eine Isabel Hull „geradezu ansteckend“ wirke. Solche hochkomischen rhetorischen Effekte, an denen Habermas’ Laudatio reich ist, entstehen immer dann, wenn Sein und Schein stark kontrastieren. 

Wie angepaßt das in Hulls Œuvre gerühmte Unbequeme tatsächlich ist, führt die keine kognitive Dissonanz scheuende Habermas im Sauseschritt durch die Monographien der mit Auszeichnungen und Preisen überhäuften langjährigen Co-Präsidentin des Comittee on Lesbian and Gay History, einer Mitgliedsorganisation der American Historical Association, vor.

Hulls Erstling, ihre den Duft des notorischen Wilhelm-II.-Hassers John Röhl verströmende Dissertation über „The Entourage of Kaiser Wilhelm II. 1888–1918“ (1982), behauptet, der Kaiser habe unter dem Druck seiner, die „Herren vom Zivil“ nach der „Harden-Eulenburg-Affäre“ (1907) verdrängenden militärischen Gefolgsleute deren Vorstellungen vom „Griff nach der Weltmacht“ adaptiert. Fritz Fischer läßt grüßen. Ihr zweites Buch über „Sexuality, State, and Civil Society in Germany, 1700–1815“ (1996) übte sich in damals schon modischer Kritik an der auf toxische „Männlichkeitsbilder“ fixierten bürgerlichen Gesellschaft, die damit ihre Aufklärungsideale verraten habe. 

Und „Absolute Destruction“? Selbst Habermas kann nicht umhin, auf angelsächsische Kritiker zu verweisen, die darin eine wenig originelle Variante der im Emigrantenmilieu von George Mosse, Fritz Stern et al. kultivierten „Sonderwegthese“ erkannten. Bleibt: „A Scrap of Paper. Breaking and Making International Law during the Great War“ (2014). Wie Hull 2005 allein dem deutschen Generalstab eine zum Völkermord disponierende Strategie der Vernichtungsschlacht andichtete, so unterstellt sie hier, sehr zum Entzücken der diesen Unsinn eifrig nachbetenden Habermas, die Reichsleitung, und nicht etwa die seriell das Völkerrecht brechenden Briten, habe exklusiv ein „primär instrumentelles Verhältnis zum Recht gepflegt“. Schade, daß Fritz Fischer (1908–1999) diesen Festakt nicht mehr erleben durfte. Es hätte ihn gerührt. 

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