© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/21 / 12. November 2021

Die Einsicht, daß Kriege nicht zweckmäßig sind
Der US-Politikwissenschaftler John Mueller blickt optimistisch auf die Fortschritte der Menschheit auf dem Weg in eine friedliche Welt
Erich Weede

Fast alle Fachleute für Internationale Politik gehen von der Existenz eines Sicherheitsdilemmas aus. Ein Sicherheitsdilemma entsteht immer dann, wenn Staaten die Fähigkeit zur Kriegführung gegeneinander haben und keine übergeordnete Instanz jede Aggression verhindern kann. Es entsteht durch Potentiale und die Neigung von Sicherheitspolitikern, mit dem Schlimmsten zu rechnen und sich deshalb auf den Krieg vorzubereiten. Dauerhaft wäre das Sicherheitsdilemma wohl nur durch eine Weltregierung zu überwinden, also auf absehbare Zeit gar nicht. 

John Mueller, ein Politikwissenschaftler der Ohio State University, der auch mit dem libertären Cato Institute in Washington verbunden ist, sieht die Lage optimistischer. Nach seiner Auffassung ist Kriegführung nicht nur fast immer dumm, sondern mehr und mehr Menschen und Regierungen sehen das auch ein, weshalb jedenfalls in den entwickelten Ländern mit den destruktivsten Militärtechnologien die Kriegsbereitschaft sehr gering ist, so daß man das Kriegsrisiko vernachlässigen kann. Wir sind auf dem Weg in eine friedliche Zukunft und müssen uns nur abgewöhnen, mit dem Schlimmsten zu rechnen und uns auf einen Verteidigungsfall vorzubereiten, der mangels Kriegsbereitschaft der hoch entwickelten Länder nie eintreten wird. Der größte Teil der amerikanischen Verteidigungsausgaben ist deshalb für Mueller reine Verschwendung. Nebenbei weist er darauf hin, daß Washingtons Verteidigungsausgaben seit dem Ende der Sowjetunion ungefähr dieselbe Größenordnung wie die US-Staatschulden heute haben. Die schwachen Verteidigungsanstrengungen in Europa, besonders in Deutschland, sind für Mueller dagegen ein Zeichen der Einsicht in die Abwesenheit von sicherheitspolitischen Gefahren in und für Europa. 

Die bloße Existenz eigener Militärmacht ist gefährlich

Obwohl große Teile des Buches Beschreibungen der US-amerikanischen Feldzüge seit 1945 von Korea und Vietnam bis Afghanistan und Irak sind, soll hier nur der Grundgedanke wiedergegeben werden. Für Mueller ist die bloße Existenz eigener (auch amerikanischer) Militärmacht gefährlich, einfach weil sie den Gebrauch ermöglicht. Weil die Kriege in Vietnam, Afghanistan und Irak viele hunderttausend Menschenleben und außerdem viel Geld gekostet haben, aber die Kriegsziele der USA dort nicht erreicht worden sind, fällt es schwer, diese Kriege zu rechtfertigen. Mueller könnte recht haben, daß der beste Schutz gegen kriegerische Fehlentscheidungen darin besteht, Regierungen weniger Militärmacht anzuvertrauen, auch der eigenen, auch demokratisch gewählten. 

Ob die Kriegsrisiken so gering sind, wie Mueller glaubt und seine Leser glauben machen will, das darf man bezweifeln. Denn Mueller erklärt auch die Tatsache, daß der Kalte Krieg kein heißer Krieg wurde, nicht etwa mit nuklearer Abschreckung und der Angst vor gegenseitig garantierter Vernichtung, sondern vor allem damit, daß weder Ost noch West jemals ernsthaft eine Invasion des gegnerischen Territoriums beabsichtigten. Im Gegensatz zu Mueller ist der Rezensent den westlichen Sicherheitspolitikern zur Zeit des Kalten Krieges dankbar, daß sie Muellers Optimismus nicht geteilt haben. 

Wenn man mit Mueller Kriegsrisiken für eine vernachlässigbare Größe hält, dann kann man mit ihm auch das Proliferationsproblem – etwa im Falle Irans oder Nordkoreas – für ziemlich belanglos halten. Muellers Optimismus in bezug auf die Geringfügigkeit von Kriegsrisiken betrifft auch Israel oder Taiwan. Es fällt zwar schwer, Muellers Optimismus über die Fortschritte der Menschheit auf dem Weg in eine friedliche Welt zu teilen, aber Mueller hat leider recht, wenn er darauf hinweist, daß die üblicherweise pessimistischen Einschätzungen von Sicherheitspolitikern (worst case) auf fragwürdiger Basis erfolgen, daß umfangreiche Vorbereitungen auf den Verteidigungsfall wie in den USA es den Regierungen erlauben, überflüssige Kriege zu führen. Ein weitgehend abgerüstetes Land könnte das nicht, wäre stattdessen vielleicht einem höheren Risiko ausgesetzt, mangelhaft vorbereitet zu sein und angegriffen zu werden. Als Anregung zum Durchdenken von sicherheitspolitischen Grundfragen ist das Buch Muellers hervorragend. Ob man jedes Argument akzeptieren sollte, das ist eine ganz andere Sache.






Prof. Dr. Erich Weede lehrte Soziologie an den Universitäten Köln, Bologna und Bonn. Er gehörte 1998 zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft

John Mueller: The Stupidity of War. American Foreign Policy and the Case for Complacency. Cambridge University Press, New York 2021, gebunden, 332 Seiten, 27,95 US-Dollar