© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/21 / 12. November 2021

Die im Glashaus sitzen
Der emeritierte Wirtschaftsjurist Siegfried F. Franke über die heuchlerische Kritik des Westens an der „Mißachtung der europäischen Werte“ in Ungarn und Polen
Fritz Söllner

Neben Polen dient heute vor allem Ungarn als Prügelknabe vieler deutscher und westeuropäischer Politiker, die dem Land und seiner Regierung die Mißachtung der „europäischen Werte“ und gravierende Verstöße gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit vorwerfen. Doch sind diese Vorwürfe gerechtfertigt? Und haben die Kritiker selbst eine weiße Weste? Diesen Fragen geht Siegfried F. Franke in seinem kürzlich erschienenen Buch nach. Der Autor kennt Ungarn, anders als viele Kritiker dieses Landes, aus eigener Anschauung, da er von 2012 bis 2015 einen Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik an der Andrássy-Universität in Budapest innehatte und seither dort als Gastprofessor tätig ist.

Im ersten Teil seines Buches geht Franke auf die gegen Ungarn erhobenen Vorwürfe ein. Er hält die Formulierung „illiberale Demokratie“, die Orbán 2014 benutzte, um seine politische Strategie zu charakterisieren, zwar für problematisch, aber vor allem deswegen, weil sie, wie in der Folgezeit geschehen, bewußt mißverstanden werden könne. Aber „illiberal“ meine keineswegs die Abkehr von den klassischen Prinzipien des Liberalismus, sondern von dem in Brüssel und Westeuropa vertretenen Pseudoliberalismus, der vor allem durch die Abkehr vom Nationalstaat, die Aufgabe des traditionellen Familienbilds, die Zulassung unkontrollierter Einwanderung und die Betonung Politischer Korrektheit geprägt sei. Daß sich Ungarn dagegen wehre, könne man nicht als Mißachtung europäischer Werte oder als Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien interpretieren. Im Gegenteil: In der Flüchtlingskrise habe sich Ungarn bemüht, die Schengen-Außengrenzen zu verteidigen und sei damit seinen europarechtlichen Verpflichtungen nachgekommen.

„Ungarn strebt danach, dem Subsidiaritätsprinzip mehr Raum zu geben und die christliche Wertebasis Europas nicht aus den Augen zu verlieren.“ Diese Feststellung mag vielen westeuropäischen Politikern ein Dorn im Auge sein – verwerflich oder unrechtmäßig sei es deswegen aber keinesfalls. Schließlich habe Ungarn, wie jedes Mitgliedsland, gemäß Artikel 4 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union ein Recht auf Achtung seiner nationalen Identität.

Im zweiten Teil macht der Autor darauf aufmerksam, daß die Deutschen allen Grund hätten, sich um die illiberalen Tendenzen im eigenen Land Sorgen zu machen. Die Mißachtung des Parlaments durch die Regierung, die zunehmende Abkehr vom Föderalismus, die mangelnde Gewaltenteilung, die fortschreitende Einschränkung der Meinungsfreiheit – das sind nur einige der bedenklichen Entwicklungen, durch die Franke die freiheitlich-demokratische Ordnung in Deutschland gefährdet sieht. Ein Höhepunkt sei mit der Coronakrise erreicht worden: Man habe bewußt Panik erzeugt, kritische Stimmen systematisch unterdrückt, die Parlamente weitgehend entmachtet und grundlegende Freiheitsrechte eingeschränkt. Die Krise sei instrumentalisiert worden, um den Einstieg in die europäische Schulden- und Transferunion durchzusetzen. Dabei hätten sich die etablierten Medien als willfährige Helfer der Regierung erwiesen. 

„Vereinigte Staaten von Europa“ ohne demokratische Legitimation 

Aber auch die Justiz sei unfähig oder unwillig gewesen, dieser Entwicklung entgegenzutreten – und zwar nicht nur im Fall der Coronapolitik, sondern auch was die vielen anderen Rechtsverstöße der letzten Jahre angehe, wie beispielsweise die Grenzöffnung in der Flüchtlingskrise oder die Staatsfinanzierung durch die EZB. Im Gegenteil, das „Klimaschutzurteil“ des Bundesverfassungsgerichts habe weiteren gravierenden Freiheitseinschränkungen den Boden bereitet. Mit ursächlich dafür sei die große personelle Nähe zwischen Justiz und Politik: Ein Wechsel vom Ministerpräsidentensessel oder Abgeordnetenstuhl direkt auf die Karlsruher Richterbank sei keine Seltenheit. Dadurch erscheine gerade die deutsche Kritik an der mangelnden richterlichen Unabhängigkeit in Ungarn oder in Polen unglaubwürdig.

Im dritten Teil nimmt der Autor näher zu den schon im zweiten Teil erwähnten „Rechts- und Regelbrüchen in Europa“ Stellung. Er sieht diese als Begleiterscheinungen einer zunehmenden Übergriffigkeit der europäischen Institutionen an – von Parlament und Kommission über den Gerichtshof bis zur EZB. Auf diese Weise werde das Ziel der „Vereinigten Staaten von Europa“ ohne demokratische Legitimation und ohne rechtliche Grundlage verfolgt.

Man sei, so das Fazit von Franke, sowohl in Deutschland als auch in Europa auf dem Weg zu einer „Großen Transformation“, in der nationale Staaten und ihre Völker keine Rolle mehr spielen sollten. Die Protagonisten dieser Großen Transformation hätten „eine tiefe Verachtung für die Geschichte und Kultur der Völker Europas“. Auch die Vorwürfe an die Adresse Ungarns seien letztlich durch diese Verachtung motiviert – und nicht etwa durch die Sorge um die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn.

Franke gelingt es, mit Ironie und Wortwitz die Kritiker Ungarns als das zu entlarven, was sie sind – Heuchler, die ihre ideologiegetriebenen Ziele unter Mißachtung der nationalen und der europäischen Rechtsordnung verfolgen und sich dabei noch als Hüter von europäischen Werten und von Rechtsstaatlichkeit aufspielen. Er sieht es angesichts dessen als seine Aufgabe an, „den mahnenden Zeigefinger zu heben und warnende Zeilen zu schreiben“. Seine Zeilen allein werden jedoch den Sturz von Demokratie und Rechtsstaat in die Bedeutungslosigkeit kaum aufhalten können. Aber vielleicht können sie ihren Teil dazu beitragen, den Bürgern klarzumachen, was auf dem Spiel steht.






Prof. Dr. Fritz Söllner, Jahrgang 1963, ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre an der TU Ilmenau. Er ist Autor mehrerer Bücher, zuletzt erschien: „Die Geschichte des ökonomischen Denkens. Eine kritische Darstellung“ (Berlin 2021).

Siegfried F. Franke: Vor dem Sturz in die Bedeutungslosigkeit: Demokratie und Rechtsstaat. LIT-Verlag, Berlin 2021, broschiert, 286 Seiten, 29,90 Euro

Foto: Kinder in ungarischen Trachten auf einem Volkstanzfest in Budapest 2019: Auf dem Weg zu einer „Großen Transformation“ sollen nationale Staaten und ihre Völker keine Rolle mehr spielen