© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/21 / 12. November 2021

Halbwahrheiten
Eine Germanistin irrlichtert im Gestrüpp des Postfaktischen
Paul Leonhard

Es ist eine kaltblütige Hinrichtung. Am 1. Februar 1968 erschießt der südvietnamesische General Nguyen Loan auf offener Straße in Saigon einen gefesselten Vietcong. AP-Kriegsfotograf Eddie Adams ist vor Ort und drückt im richtigen Augenblick auf den Auslöser. Das entstandene Foto wird – weltweit gedruckt – zum Symbol für die Grausamkeit der Südvietnamesen und beschert Adams den Pulitzerpreis. Und doch erzählt das Foto nur eine Halbwahrheit: Loan erschoß einen Kriegsverbrecher, der zuvor seinen Freund und dessen Frau und Kinder ermordet hatte.

Ereignisse haben immer Vorgeschichten, die wichtig sind, damit eben keine Halbwahrheiten verbreitet werden. Als Expertin für Postfaktizität und Verschwörungstheorien gilt Nicola Gess, Professorin für Neuere Deutsche und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Uni Basel. In einem Büchlein beschäftigt sich die aus Bielefeld stammende Wissenschaftlerin unter dem Titel „Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit“ mit diesen „auffälligsten und wirksamsten Instrumenten des sogenannten postfaktischen politisches Diskurses“. 

Für ihre These, daß Fakenews, Verschwörungstheorien oder populistische Propaganda nicht ohne Halbwahrheiten und ihre Manipulation von Wirklichkeit auskommen, hat sie drei Protagonisten ausgewählt: den für seine Geschichten mit zahlreichen hochdotierten Preisen geehrten „journalistischen Hochstapler“ Claas Relotius, den früheren RBB-Reporter und heutigen „Verschwörungsstheoretiker“ Ken Jebsen und den Dresdner Bestseller-Autor Uwe Tellkamp, den Gess im rechten Spektrum verortet.

Gess’ Argumentation funktioniert besonders im Fall Tellkamp nur deswegen, weil sie den Anlaß der von dem Dresdner unterzeichneten und später von ihm immer wieder verteidigten „Charta 2017“ unterschlägt, weil es für sie eben keinen „Gesinnungskorridor“ akzeptierter Meinungen gibt. Dabei müßte es die 48jährige besser wissen, da sie als Expertin auch zu Veranstaltungen des Deutschen Hygiene-Museums Dresden eingeladen war, also jener Einrichtung, die die Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen, die die „Charta 2017“ formuliert hatte, als Teilnehmerin an einem Workshop als unerwünschte Andersdenkende hat ausschließen lassen.

Gess macht in ihrer Schrift letztlich genau das, was sie Tellkamp vorwirft: Sie gibt sich den Anschein, an einem rationalen Diskurs interessiert zu sein, operiert aber selbst mit Halbwahrheiten und „einer entgleisenden Verdachtshermeneutik“. Adams hat die Vorgeschichte zu seinem preisgekrönten Foto übrigens später recherchiert und 1985 veröffentlicht. Interessiert hat das keinen mehr. Die Halbwahrheit hatte sich längst als Wahrheit durchgesetzt.

Nicola Gess: Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2021, broschiert, 157 Seiten, 14 Euro