© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/21 / 12. November 2021

Ohne den unterirdischen Wald
Die UN-Klimakonferenz und Rolf Peter Sieferles Anatomie der ersten globalen Energiewende
Christoph Keller

Die etwa 40.000 Teilnehmer der 26. Weltklimakonferenz (COP 26) flogen aus allen Weltregionen zu einem historischen Veranstaltungsort: Glasgow war eine der reichsten Industriestädte des Empires – dank ihres Atlantikzugangs und der riesigen Kohlevorkommen in der umgebenden Grafschaft Lanarkshire. In solchen britischen Metropolen wurde vor 250 Jahren das Tor zum „fossilen Zeitalter“ aufgestoßen, aus dem sich die „Weltgemeinschaft“ zwecks „Rettung des Klimas“ nun zügig wieder verabschieden soll. Dafür müßten alle endlich „aus der Kohle aussteigen“, so UN-Generalsekretär António Guterres. Ansonsten drohe eine „Klimakatastrophe“.

Aber die zweite globale Energiewende scheint illusorisch: Nicht einmal als 50 der 195 Vertragsstaaten der UN-Klimarahmenkonvention versprachen vorige Woche den kompletten Kohleverzicht vor der Jahrhundertmitte. China, die USA, Indien und Australien gehörten nicht dazu, doch diese vier Länder stehen laut dem australisch-japanischen Global Carbon Project (GCP) für 52,3 Prozent der globalen CO2-Emissionen. Das deindustrialisierte Gastgeberland Großbritannien, das nur noch 0,95 Prozent des menschengemachten (anthropogenen) CO2-Ausstoßes verursacht, will hingegen mit Deutschland Vorreiter sein. Doch Atomkraft ist aufwendig und unbeliebt, Gas teuer; Solar- und Windkraft liefern aber keine Energie in Dunkelflauten. Und: Erst das fossile Zeitalter ermöglichte Wachstum und später den „Wohlstand für alle“.

Rolf Peter Sieferles (1949–2016) gerade neu aufgelegtes Pionierwerk „Der unterirdische Wald“ erklärt die Zusammenhänge von frühneuzeitlicher Energiekrise (1760–1830) und industrieller Revolution. Der auffälligste Unterschied zwischen den beiden Energiewenden liegt darin, daß der von Sieferle minutiös beschriebene Kohleeinstieg einem kollektiven Probieren glich, während der abrupte Ausstieg aus allen fossilen Energieträgern Züge blanker Panik offenbart: „Wir brauchen eine komplette Transformation unserer Art zu leben und zu arbeiten, der Energieerzeugung und der Mobilität“, verkündete Angela Merkel in Glasgow.

Im Vereinigten Königreich vollzog sich der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft im 18. Jahrhunderts eher mit „evolutionärer Offenheit“, ohne zentrale Planung, allein dem Markt gehorchend. Trotzdem unterschied sich die damalige „Holzkrise“ von früheren Knappheitslagen dadurch, daß sie von einer Größenordnung war, die nur die „säkulare Antwort“ einer „Großen Transformation“ gestattete: weg von der 5.000jährigen Agrar-, hin zur Industriegesellschaft; raus aus dem Holz, rein in die Kohle.

Warum die Briten früh auf Kohle setzten, erklärt Sieferle damit, daß die entwaldete Insel härter unter der „Holzkrise“ gelitten habe als Kontinentaleuropäer. Schmerzlich war der Mangel schon deshalb, weil er Englands Aufstieg zur führenden See- und Kolonialmacht zu sabotieren drohte. Doch den Schwierigkeiten stand die Leichtigkeit gegenüber, mit der man heimische Steinkohle als neue „Zentralressource“ ausbeuten und über die Nordsee überall hin transportieren konnte. Kohle habe sich als Trumpf im internationalen „Kampf ums Dasein“ erwiesen.

Raus aus der „fossilen“ Industrie – ein Holzweg in die Massenarmut?

Ihre Nutzung ermöglichte es, Restwälder in Ackerland zu verwandeln, um Nahrung für eine wachsende Bevölkerung zu erzeugen: Zwischen 1801 und 1871 verdreifachte sich die Einwohnerzahl Großbritanniens auf 31,5 Millionen. Das brachte mehr Rekruten für Heer und Marine, Steuerzahler, Arbeitskräfte sowie die Entfesselung der Produktivkräfte, um den Reichtum der Welt an sich zu ziehen. Die Kohleförderung stieg wegen des Einsatzes der Dampfmaschine von 1800 bis 1850 von zehn auf 60 Millionen Tonnen jährlich. Die bessere Eisenverhüttung mit Kohle ermöglichte Innovationen im Bahn- und Schiffsbau.

Die Agrarchemie revolutionierte die Landwirtschaft, die überflüssigen Landarbeiter wurden Billiglöhner in den Städten und Fabriken. Um 1850 hatte England die „hölzerne Gesellschaft“ hinter sich gelassen. Der Kohleeinsatz – für Energie, Chemie, Stahl und Heizung – ermöglichte eine Wirtschaftsordnung, die nach permanentem Wachstum giert, die unablässigen Wandel erzeugt und die Gewinnmaximierung zum „Systemimperativ“ erhebt. Was zu rücksichtsloser Ausbeutung von Mensch und Natur, aber im 20. Jahrhundert auch zu Massenwohlstand und nie gekannten individuellen Freiheiten führte.

Daß Kohle und später Erdöl ein in Jahrmillionen entstandener, nicht reproduzierbarer Fundus ist, war Naturwissenschaftlern wie Ökonomen bewußt: Um deren „Wahrnehmung von der Endlichkeit“ des fossilen Zeitalters zu dokumentieren, zitiert Sieferle zahlreiche Stellungnahmen aus der Zeit zwischen 1792 und 1872 zur Frage, wann mit der Erschöpfung des „unterirdischen Waldes“ zu rechnen sei. Die Schätzungen schwankten zwischen 200 und 2.000 Jahren. 2010 taxierte Geologieprofessor Ralf Littke (RWTH Aachen) die „statistische Reichweite“ der globalen Steinkohlenvorräte im Handelsblatt „in einer Größenordnung von mehreren hundert Jahren“. Die Erdölreserven reichen weit über das deutsche Klimaneutralitätsjahr 2045 hinaus.

Der englische Ressourcenökonom William Stanley Jevons hielt das von fossiler Energie befeuerte Industriesystem aber bereits 1865 für eine „vorübergehende Angelegenheit“. Staatliche, das Wachstum drosselnde Interventionen, könnten das Erreichen der Rohstoffgrenze verzögern. Doch solche „Alternativen“ blieben in der fortschrittsseligen Epoche der ersten Globalisierung genauso ohne Realisierungschance wie jene aus dem Club-of Rome-Bericht über die „Grenzen des Wachstums“ abgeleiteten „Small is beautiful“-Appelle der 1970er Jahre. Damals war China ein Fahrradland, heute verbraucht das 1,4-Milliarden-Reich die Hälfte der weltweiten Kohleproduktion. Der chinesische Pro-Kopf-CO2-Austoß lag 2020 mit 7,41 Tonnen auf dem Niveau Deutschlands (7,69 Tonnen).

Der Ausweg, natürliche Wachstumsgrenzen mit Kernenergie salopp zu überspringen, stieß schon in der Bonner Republik auf Widerstand: Kanzler Helmut Schmidt mußte 1979 mit Rücktritt drohen, um SPD-Atomgegner auf AKW-Linie zu bringen. Der 2011 von Union und FDP proklamierte Atomausstieg bis 2023 setzte den Schlußpunkt. Sieferle hätte, wie sein Nachlaßverwalter Raimund Kolb im Nachwort zur Neuauflage ausführt, diese Option wohl auch dann skeptisch beurteilt, wären ihm künftige Reaktortypen bekannt gewesen. Weil sie ebenfalls der illusorischen Wachstumsideologie huldigten. Doch deren Versprechungen ließen sich nicht erfüllen: Das von den „ökologistischen Bewegungen mit äußerster Harthörigkeit“ ignorierte Epizentrum der Umweltkrise, die Bevölkerungsexplosion, dürfte sie Lügen strafen. Doch das ist auf UN-Klimakonferenzen ein Tabuthema.

 ukcop26.org

 www.globalcarbonatlas.org

Rolf Peter Sieferle: Der unterirdische Wald. Energiekrise und Industrielle Revolution, Landtverlag, Lüdinghausen 2021, gebunden, 407 Seiten, 48 Euro

Foto: Braunkohlentagebau Jänschwalde bei Cottbus: Wachstumsgrenzen mit Kernenergie überspringen?