© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/21 / 12. November 2021

Der Flaneur
Held des Alltags
Reiner Brinkmann

Als ich das Fahrradgeschäft betrete, atme ich den Geruch von Öl und Schmierfett. Ich stehe mehr in einer Werkstatt als in einem Verkaufsraum. Kein Sonderangebot, kein Fahrrad des Monats, das mir den Weg verstellt. Ich blicke kurz zurück. Auf der anderen Straßenseite baut sich die Fassade eines großen Fahrraddiscounters auf und verspricht beste Leistung und günstige Preise auf schrillen Plakaten. Für einen Moment bin ich unschlüssig. Bin ich hier richtig? Ein hagerer Mann, der mir abgewandt eben noch Kleinteile in ein Holzregal voller Schütten sortiert, dreht sich zu mir um, blickt mich fragend über den Rand seiner Brille an.

Nach zehn Minuten und einem Kleinstbetrag, den ich sprachlos aufrunde, verlasse ich beeindruckt den Laden.

Ich erkläre ihm die Probleme mit der Fahrradkette. Gedanklich hatte ich die Fortsetzung meiner geplanten Fahrradtour schon abgeschrieben. Sah mich schon einem smarten Verkäufer gegenüber, der mir erklärt, daß das eine größere Sache sei und die abgenutzten Ritzel zusammen mit neuer Kette ausgetauscht werden müßten, wofür sie etwa zwei Tage plus Wochenende bräuchten. Der hagere Mann jedoch, der seine Aufmerksamkeit direkt dem Rad zuwendet, sagt nichts, beugt sich hinunter und läßt die Kettenglieder langsam durch seine Finger gleiten. Dann hält er plötzlich inne, hat gefunden, wonach er sucht. Mit seinem Werkzeug entfernt er rasch das schadhafte Kettenglied, wendet sich seinen Schütten zu, kramt hier und da und hält mir schließlich lächelnd ein passendes entgegen. Als er es einsetzt und ihm die Kette dabei unversehens aus den Händen gleitet, sagt er: „Na, was machst du mit mir? Sträubst dich?“ Ungläubig sehe ich zu, wie der hagere Mann mit meinem Fahrrad spricht, während er hockend vor dem Rad gleich einem Uhrmacher geschickt das neue Kettenglied einsetzt und die Kette einfädelt. Liebevoll ölt er sie dann und wischt, als striegele er ein Pferd, mit seinem Lappen noch einmal über den Rahmen. 

Nach zehn Minuten und einem Kleinstbetrag, den ich sprachlos aufrunde, bedankt sich der Meister mehrmals und sieht mich tief beeindruckt den Laden verlassen. Wie lange wird es das noch geben? Ehrlich gelebte Arbeit voller Sachverstand und bescheidener Hingabe, stille Helden. Während ich meine Radtour wieder aufnehme, schicke ich dem Meister noch einen stillen Dank hinüber, einerseits für die Reparatur, aber vor allem für die wertvolle Erfahrung.