© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/21 / 19. November 2021

Voller beißender Widersprüche
Corona-Maßnahmen und kein Ende: Gesundheitspolitik hat eklatant versagt / Impfung kein Allheilmittel
Fritz Söllner

Die deutsche Corona-Politik steckt in der Sackgasse. Trotz einer Milliarden Euro teuren (und für die Pharmaindustrie sehr einträglichen) Impfkampagne steigen die Fall- und Krankenzahlen wieder einmal steil an. Die Pandemie scheint kein Ende zu nehmen, und die Politik reagiert auf das Scheitern ihrer Corona-Strategie mit einer Verschärfung derselben: Aus 3G wird 2G, und aus dem „Impfangebot“ wird vielleicht bald eine Impfpflicht, wie sie heute schon für bestimmte Berufsgruppen gefordert wird. Die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ soll zwar am 25. November enden, aber alle aktuellen Maßnahmen sollen fortgesetzt werden – abgesichert durch eine entsprechende Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Einen allgemeinen Lockdown wird es dann nicht mehr geben, aber ein De-facto-Lockdown für Ungeimpfte ist durchaus möglich, wie es Österreich jetzt vormacht. Besteht nun eine „epidemische Lage“ oder nicht? Wenn ja, warum erklärt man sie dann für beendet? Wenn nein, warum werden die Maßnahmen dann beibehalten?

Die deutsche Corona-Politik ist nicht nur durch diesen, sondern auch durch viele andere Widersprüche gekennzeichnet. Einer von ihnen betrifft die Auslastung der Intensivstationen in den Krankenhäusern. Diese sollte ja das entscheidende Kriterium für die Politik sein. Angeblich würde gegenwärtig (wieder einmal) eine Überlastung drohen, weswegen schärfere Maßnahmen, wie insbesondere der weitgehende Ausschluß Ungeimpfter vom öffentlichen Leben, notwendig seien. Die Zahlen des Intensivbettenregisters zeigen, daß zwar die Zahl der freien Betten seit Jahresmitte zurückgeht – aber immer noch über zehn Prozent der Gesamtbettenzahl beträgt –, daß dies aber nicht primär auf eine höhere Zahl belegter Betten, sondern auf eine Abnahme der Gesamtzahl der Intensivbetten zurückzuführen ist.

Offensichtlich hat die Gesundheitspolitik eklatant versagt: Entweder handelt es sich wirklich um ein „Killervirus“: dann hätte man die Intensivkapazitäten nicht abbauen dürfen, sondern erweitern müssen; oder die Pandemie ist nicht so gefährlich wie behauptet: dann wäre wohl ein Großteil der coronapolitischen Maßnahmen nicht notwendig gewesen.

Besonders umstritten ist gegenwärtig die Impfstrategie und dabei vor allem der Umgang mit Ungeimpften. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat die Unwahrheit gesagt, als er im Februar 2021 behauptete, daß „alle zugelassenen Impfstoffe sicher und wirksam“ seien. Inzwischen wissen wir, daß die Impfstoffe weder gänzlich vor Ansteckung und Erkrankung schützen, noch die Übertragung des Virus komplett verhindern. Die Ansteckungswahrscheinlichkeit und die Wahrscheinlichkeit schwerer Krankheitsverläufe scheinen zwar geringer zu sein, aber genau quantifizierbar sind diese Effekte bislang nicht.

Nicht ohne Grund preist das Paul-Ehrlich-Institut die Corona-Impfung nicht mehr wie noch im August 2021 als „Schutz vor Infektion“ an, sondern hält sie nur noch für „indiziert zur aktiven Immunisierung zur Vorbeugung der Covid-19-Erkrankung“. Und was die Sicherheit angeht, so sprechen die Berichte dieses Instituts eine deutliche Sprache: Zahlreiche, teils schwerwiegende Nebenwirkungen wurden bisher beobachtet, und täglich kommen neue hinzu. Angesichts dessen bestehen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit von 2G- und 3G-Regel. Der Staatsrechtler Dietrich Murswiek hält diese und ähnliche Regeln für verfassungswidrig, weil die Freiheitseinschränkungen für Ungeimpfte gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und die mit ihnen einhergehende Ungleichbehandlung von Geimpften und Ungeimpften gegen das Gleichheitsgebot verstoßen würden.

Aufgrund dieser Probleme, vor allem aber aufgrund einer vierten Welle, die trotz einer Impfquote von  mindestens 67 Prozent nicht schwächer als die vorhergehenden Wellen zu verlaufen scheint, sollte es klar sein, daß die Impfung nicht das Allheilmittel ist, als das sie der Bevölkerung angepriesen wird. Bei den verantwortlichen Politikern hat sich diese Erkenntnis noch nicht durchgesetzt. Sie verschließen ihre Augen vor dem Scheitern ihrer Strategie und wollen mit dem Kopf durch die Wand am Ende der Sackgasse, in die sie sich selbst manövriert haben. Mehr Zwang, mehr Repression, mehr Freiheitseinschränkung – das ist alles, was ihnen einfällt.

Um diese Maßnahmen zu rechtfertigen, wird wieder einmal bewußt Panik erzeugt. Schreckensszenarien werden an die Wand gemalt und die Ungeimpften zu Sündenböcken gemacht. Dadurch dürfte die Spaltung der Gesellschaft nur noch weiter zunehmen und sich auch auf Freundeskreis und Familie auswirken: Aktivitäten wie ein Restaurant- oder Kinobesuch oder ein Gang über den Adventsmarkt sind mitunter nicht mehr gemeinsam möglich und können Anlaß zu Streit und Schuldzuweisungen geben. Wie mögen sich wohl die Hamburger fühlen, die auf Adventsmärkten gemäß ihres Impfstatus durch einen Zaun voneinander getrennt werden und von denen sich nur die Geimpften Speisen und Getränke kaufen dürfen? Werden sich die Ungeimpften klaglos wie Aussätzige behandeln lassen oder ihren Ärger an den Standbetreibern oder vielleicht sogar an ihren geimpften Verwandten und Freunden auslassen? Und werden diese die Ungeimpften bedauern oder ihnen Vorhaltungen machen? Die Stimmung dürfte kaum eine besonders festliche und fröhliche sein – trübe Aussichten für die diesjährige Advents- und Weihnachtszeit.

Aus dieser verfahrenen Situation gibt es nur einen Ausweg: Die bisher verfolgte und offenbar gescheiterte Strategie muß endlich auf den Prüfstand gestellt werden. Dabei müssen alle Argumente auf den Tisch kommen und auch die Positionen von Kritikern der aktuellen Politik Gehör finden. Letztere dürfen nicht länger als „Corona-Leugner“ verunglimpft oder gar in die Nähe von Terroristen gerückt werden. Nur so ist die dringend notwendige sachliche und vorurteilsfreie Debatte möglich. Voraussetzung dafür ist allerdings auch die Bereitschaft, Fehler, die man gemacht hat, einzugestehen und Unwahrheiten, die man verbreitet hat, richtigzustellen. Diese Bereitschaft ist aber unter Politikern eher schwach ausgeprägt, so daß wenig Anlaß zu der Hoffnung besteht, daß es bald zu einer Neuausrichtung der Corona-Politik kommen wird.






Prof. Dr. Fritz Söllner ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre an der TU Ilmenau.