© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/21 / 19. November 2021

Eskalation im Osten
Finger in unserer Wunde
Dieter Stein

Inwischen schälen sich diverse Interessen heraus, die den Konflikt an der Grenze zwischen Weißrußland und Polen eskalieren lassen. Aus unterschiedlichen Motiven loten sowohl der weißrussische Despot Lukaschenko als auch Rußlands Präsident Putin aus, wie verletzlich die Europäische Union an diese Stelle ist. Die EU hatte zuletzt Ungarn und Polen wegen des Streits um Grundwerte massiv in die Enge getrieben. Ließe sich entlang dieser Bruchlinie diese Spaltung befeuern?

Eine von Lukaschenko an die Grenze gelockte Gruppe von wenigen tausend Migranten aus dem Nahen Osten droht Brüssel als Papiertiger dastehen zu lassen. Könnten die zerstrittenen EU-Mitgliedstaaten mit einer neuen Migrationskrise noch weiter auseinandergetrieben werden, um die Forderung nach Rücknahme von Sanktionen zu erzwingen? Im Hintergrund lodert der Konflikt um die Ostukraine und die Krim. Dient das Scharmützel am polnischen Grenzübergang als Ablenkungsmanöver, um in der Ukraine harte Fakten zu schaffen?

Der hybride Angriff an Polens Ostgrenze legt die weiche Flanke der EU frei. Das Problem heißt Deutschland. 

So oder so legt der entfesselte hybride Angriff mit Migranten auf eine EU-Außengrenze die weiche Flanke der Union frei. Das Problem heißt Deutschland. Die EU-Außengrenzen gerieten überhaupt nicht derart unter Druck, wenn die deutsche Politik nicht unverändert darauf verzichtete, eigene scharfe Kontrollen und Zurückweisungen an den eigenen Grenzen durchzusetzen.

Lukaschenko legte den Finger in die Wunde deutscher Hypermoral, als er generös anbot, Migranten per Flugzeug nach München zu bringen. Die dortige Stadtregierung hatte sich großspurig als „sicherer Hafen“ für die illegalen Migranten angeboten sowie „schnell und unbürokratisch“ zu helfen. Hier zeigt sich die Verlogenheit der deutschen Politik: Während Lukaschenko als Schlepper angeprangert wird, betätigen sich deutsche Asyllobbygruppen, teilweise als gemeinnützig anerkannt, faktisch ähnlich und organisieren Fährdienste für Abertausende illegale Migranten auf dem Mittelmeer, ohne daß ihnen das Handwerk gelegt wird. 

Am Ende destabilisieren nicht Minsk und Moskau die EU, sondern Deutschland, das sich bislang strikt weigert, seine Staatlichkeit ernsthaft zu verteidigen. Vielleicht ist die derzeitige Eskalation ein heilsamer Weckruf für die deutsche Politik. Dafür könnte stehen, daß Außenminister Heiko Maas und der designierte Kanzler Olaf Scholz plötzlich den Bau robuster Grenzanlagen im Osten unterstützen und die Rückführung der Migranten in die Herkunftsstaaten fordern. Womit sie jedoch die Drecksarbeit mal wieder anderen Staaten aufhalsen.