© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/21 / 19. November 2021

„Polen statuiert ein Exempel“
Die Krise an der EU-Grenze eskaliert: Migranten stürmen polnische Sperren. Der Philosoph Andrzej Przyłębski, Botschafter der Republik Polen in Berlin, verteidigt sein Land gegen Kritik
Moritz Schwarz

Exzellenz, warum ist es für Polen wichtig, seine Grenzen zu schützen? 

Andrzej Przyłębski: Weil wir aus den Erfahrungen anderer Länder, nicht nur Deutschlands, sondern auch Großbritanniens, der Niederlande oder Frankreichs, gelernt haben: Es kommen Menschen, die sich en masse nicht integrieren wollen. Ihr Frauenbild etwa zeigt das – auch nach mehreren Jahren des Aufenthalts im Westen – eindeutig. In unseren Augen sollten sich diese jungen Männer am Aufbau der Wirtschaft und des zivilen Lebens in ihrer Heimat beteiligen. So würde es fast jeder Pole machen, was zeigt, wie kulturell unterschiedlich wir sind.

Allerdings kommt aus der sich bildenden Ampel-Koalition im Deutschen Bundestag Kritik an Ihrer rigorosen Grenzschutzpolitik: Geht Polen nicht zu weit?

Przyłębski: Nein, wir tun nur das, was jeder EU-Staat tun sollte. Denn es gibt kein Anrecht darauf, daß jeder beliebige Weltbewohner sich dort ansiedeln darf, wo es ihm gefällt. Das ist eine falsche Auslegung der Kantischen Subjektivitätslehre, die in Deutschland leider verbreitet ist. 

Inwiefern? 

Przyłębski: Für Immanuel Kant ist jeder Mensch ein Erkenntnissubjekt, und als solcher – eine Person. Deren Hauptmerkmal ist Freiheit, woraus man irrtümlicherweise schlußfolgert, daß er frei sei, den Ort seines Lebens zu wählen, beziehungsweise zu bestimmen. Also habe ein junger Afrikaner das Recht, sich einfach, ohne Zustimmung der Deutschen, in Deutschland anzusiedeln. Die Teilung der Welt in Staaten spielt in diesem Denken kaum eine Rolle. Man vergißt dabei jedoch, daß es bei Kant auch die Theorie der internationalen Gastfreundschaft gibt, die besagt, daß es der Gastgeber ist, der den Gast einlassen und ausladen darf. Ausländer müssen qua Visum eingeladen werden, und die Migranten an der östlichen EU-Grenze wurden das nicht. Man muß Kant im Kontext von Johann Gottlieb Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ lesen! 

Hat allerdings etwa Lars Castellucci, migrationspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, nicht recht, wenn er kritisiert: „Gewalt und ‘Pushbacks’ gegen Geflüchtete ... sind verboten, und unvereinbar mit der Verpflichtung zum Schutz der Menschenrechte.“ 

Przyłębski: Ach wissen Sie, ich beobachte, daß die Kritik an Polen seitens deutscher Politiker immer milder wird, beziehungsweise sogar verschwindet. Denn diese begreifen endlich, daß wir auch und vor allem Deutschland schützen. Die Migranten an der polnisch-belarussischen Grenze wollen ja nicht nach Polen, sondern nach Deutschland. Und warum? Weil sie dort von der Sozialhilfe gut leben können, ohne arbeiten zu müssen, und zwar in den Kommunen ihrer Landsleute, die sich bereits seit Jahren in Ihrem Land befinden. 

Auch Viktor Orbán hat Deutschland beschützt, dennoch wurde er hierzulande dafür, sogar von der Kanzlerin, schwer kritisiert. In Deutschland gilt strikter Grenzschutz als nationalistisch, wenn nicht rassistisch.

Przyłębski: In Deutschland bilden sich viele Menschen ein, der Westen sei für die Probleme in Afrika oder Asien verantwortlich. Ich habe selbst von hochrangigen deutschen Diplomaten gehört, daß wir deshalb erstens alle Wirtschaftsmigranten als „Flüchtlinge“ einstufen und zweitens in die EU einladen sollten. Auch weil es, wie sie meinten, „keine Grenzen mehr gibt“, beziehungsweise „Grenzen sich heutzutage nicht mehr verteidigen lassen“. Wir in Polen begreifen ein solches Denken nicht! Wir versuchen stattdessen zu zeigen, daß es anders geht. Und für uns sind diese Hunderte in Irak, Syrien oder Afghanistan vom belarussischen Staatschef Lukaschenko angeworbenen jungen Männer keine Flüchtlinge, sondern meist gefährliche Migranten, die ihr Leben auf unsere Kosten verbessern wollen. 

Die korrekte Beschreibung wäre also Grenzverletzer und illegale Einwanderer?

Przyłębski: Wir haben Befragungen in den Ländern, aus denen sie kommen, gemacht. Wir haben Journalisten dorthin geschickt. Diese Leute sind keine armen Menschen, denn sie können sich eine 10.000-Dollar-Anreise leisten. In der belarussischen Hauptstadt Minsk, wo sie schließlich ankommen, essen sie in guten Restaurants, kaufen Winterklamotten in den dortigen Geschäften und übernachten teilweise in Hotels. Im deutschen Fernsehen aber sieht man arme, wandernde Kurdenfamilien. Dabei besteht die Überzahl aus jungen Männern, die mit Hilfe der Beamten Lukaschenkos eingeflogen werden. Zum einen will er mit ihrer Schlepperei viel Geld verdienen, zum anderen will er sie als Waffe gegen die EU einsetzen: um diese zu destabilisieren und sie für ihre Unterstützung der weißrussischen Opposition zu bestrafen. Es muß also unbedingt klargestellt werden: Das sind keine Kriegsflüchtlinge, auch nicht diejenigen aus Afghanistan! Ihre Sympathisanten in der EU, leider auch in Polen, arbeiten jedoch mit dieser verfälschten Definition, um für diese Leute in der europäischen Öffentlichkeit Sympathien zu gewinnen.

Wenn sie sowieso zu uns wollen, warum lotst Polen sie dann nicht einfach nach Deutschland – und schon wäre Ihr Land aus dem Schneider?

Przyłębski: Wenn es ihnen gelingt, Deutschland zu erreichen, kommen bald die nächsten. Zudem fischt Lukaschenko nach solchen – und das wurde bewiesen –, die mit ISIS zu tun hatten. Lassen wir zu, daß sie in die EU gelangen, werden sie Keimzellen künftigen Terrors dort sein. Aber noch etwas: Deutschland muß respektieren, daß man das Problem nicht mit Putin lösen darf. Denn dessen Methode ist, Konflikte zu erzeugen, um dann bei der Lösung um Hilfe gebeten zu werden. Damit muß endlich Schluß sein! Nicht zufällig droht Lukaschenko, die Russen einzuschalten – weil ohne Putins Zustimmung das Ganze nicht vorstellbar ist. Die Naivität diesem gegenüber sollte aufhören!      

Eine andere Kritik aus Deutschland an Polen lautet: „Zugang zum Asyl muß an den EU-Grenze gewahrt sein.“ Brauchen wir eine Änderung des EU-Asylrechts? 

Przyłębski: Was wir brauchen, ist eine strenge Auslegung des Asylrechts, unter anderem hinsichtlich des Gebrauchs des Begriffs Flüchtling. Die Leute an der polnisch-belarussischen Grenze sind, wie gesagt, keine Flüchtlinge, auch keine „Geflüchteten“. Sie kommen aus Ländern, in denen es momentan keinen Krieg gibt. Und viele von ihnen werden später ihr Leben in Deutschland oder in den Niederlanden wohl mit Kriminalität finanzieren. Erfahrungsgemäß integrieren sie sich kaum und tragen zum Anwachsen etlicher Gefahren bei. 

2015 hat es die Regierung Merkel nicht gewagt, die deutsche Grenze mit Polizei oder Soldaten zu schließen, und sich dafür als christlich und human gelobt. Nun unterstützt die gleiche Regierung allerdings die Politik Warschaus, inklusive des Einsatzes der polnischen Armee. Ist das nicht ein Widerspruch? 

Przyłębski: Tut mir leid, aber ich kann nicht glauben, daß Deutschland 2015 aus moralischen Gründen so gehandelt hat. Außerdem muß man imstande sein, aus Erfahrungen zu lernen. Sehen Sie, wir Polen haben nichts gegen Migration als solche, denn auch wir brauchen Arbeitskräfte. Es muß aber zivilisiert zugehen, das heißt: junge Leute melden sich in ihren Heimatländern in der deutschen beziehungsweise polnischen Botschaft, stellen einen Antrag, zeigen was sie können, lernen ein wenig die Sprache des Gastlandes, und erst dann fliegen sie in die EU. Gewalttätiges Übertreten der Grenze jedoch zeigt, wozu diese Leute imstande sind! 

Warum eigentlich ist Polen, im Gegensatz zu Deutschland, mental in der Lage, seine Grenze zu verteidigen? 

Przyłębski: Für uns Polen ist die Integrität der Gesellschaft sehr wichtig. Verbunden durch das Christentum leben wir noch als eine moderne Gesellschaft – und nicht als postmoderne Gesellschaft der „Elementarteilchen“, wie es der französische Schriftsteller Michel Houellebecq in seinem gleichnamigen Roman beschrieben hat. Parallelgesellschaften brauchen wir nicht. Darüber hinaus wollen wir die Kontrolle über unsere Städte nicht verlieren – was in Schweden oder Frankreich ja bereits teilweise der Fall ist. Wenn sich die Menschen kaum integrieren – auch infolge ihrer anderen Religion – und wenn wir außerstande sind, sie als potentielle Gefahr zu kontrollieren, dann ist es sinnvoll, sie nicht ins Land zu lassen. Die Risiken sind dann einfach zu groß.

Steckt hinter der Frage nach Schutz der Grenzen und der Asylpolitik in der EU vielleicht ein Kulturkampf? 

Przyłębski: Das ist insofern der Fall, als die Anhänger der verrückten No-Border- und Multikulti-Ideologie die eigene Kultur und deren Errungenschaften meist ablehnen, ja hassen und darauf hoffen, daß mit den nichtintegrierbaren Migrantengruppen die europäische Kultur schneller ausgelöscht wird. Das aber dürfen wir nicht zulassen! Auch deshalb müssen wir uns also vor illegaler Migration schützen.

Wird, wie 2015, ein „Krieg der Bilder“ entbrennen, bei dem, wie deutsche Medien damals später zugaben, Mitleid inszeniert, statt die Realität abgebildet wird?  

Przyłębski: Dieser Bilderkrieg hat doch bereits begonnen. Und deutsche Medien spielen hier erneut eine unrühmliche Rolle – obwohl es auch Ausnahmen gibt, wie etwa diesmal die Bild-Zeitung. Ein Bericht der ARD zum Beispiel wurde jüngst mit einer einzelnen, von ihrer Gruppe separierten Kurdenfamilie illustriert. In Wirklichkeit aber greifen unsere Grenze Horden junger Männer an, gewappnet mit Äxten, Drahtscheren, Spaten, die sie entweder in Minsk gekauft haben – wobei die belarussische Miliz ein Auge zudrückt. Oder die sie sogar direkt von belarussischen Grenzsoldaten erhalten haben. Nochmals: Das sind Angreifer und keine Flüchtlinge!

Australien sperrt seit Jahren seine Grenze für illegale Einwanderung. Seitdem ertrinken dort offenbar kaum noch illegale Einwanderer, weil sie ohne Aussicht auf Erfolg nichts mehr aufs Meer lockt. Natürlich hat Eu­ropa eine andere Geographie, aber sollte das australische Modell in der EU nicht zumindest diskutiert werden?

Przyłębski: Tatsächlich hat Australien diesbezüglich ein Exempel statuiert. Die Einstellung der Regierung in Canberra ist meines Erachtens ganz korrekt: legale Migration ja, illegale nein. Auch Polen wird ein Exempel statuieren, nämlich daß die Verteidigung der EU-Grenze möglich ist! Ich habe vor kurzem mit einem deutschen Wissenschaftler gesprochen, der mit der Nato in Italien zusammengearbeitet hat. Er sagte mir, daß dies durchaus auch auf dem Mittelmeer möglich sei – die italienische Politik müsse es nur befehlen.

Weder schirmen wir Europa konsequent ab, noch holen wir die Migranten direkt ab, was beides das Ertrinken verhindern würde, Folge: Menschen werden en masse angelockt, wobei viele unterwegs umkommen, laut Berichten ermordet, aus Spaß zu Tode gefoltert, vergewaltigt oder versklavt werden beziehungsweise im Mittelmeer ertrinken. Die Bundesregierung und Teile der deutschen Medien nennen diese Politik „christlich“. Wie wird das in Polen betrachtet? 

Przyłębski: Als falsche Auslegung der christlichen Nächstenliebe. Denn im Christentum funktioniert in dieser Hinsicht die „Caritas“, also die Nächstenliebe, in der mit ihr verbundenen Reihenfolge: beginnend mit der Sorge um die eigene Familie, dann um das eigene Vaterland und erst am Ende um die ganze Menschheit. Wir helfen dem Irak nicht, wenn wir die Hälfte der jungen Iraker nach Europa einladen.

Wann und wie wird die aktuelle Krise enden? 

Przyłębski: Die Situation ist sehr schwierig, auch wegen des genannten „Kriegs der Bilder“. Jetzt kommt auch noch der Winter, und von den Eindringlingen an der Grenze ist zu hören, daß sie niemals zurück in ihre Länder gehen werden: Entweder Deutschland oder Tod an der Grenze! So beteuern ihre Anführer. Wir hoffen, daß sie dennoch zunächst nach Minsk zurückkehren, um dann – wegen der Probleme, die sie Lukaschenko schon jetzt bereiten – in ihre Herkunftsländer abtransportiert zu werden. 

Die Krise zeigt, Europa wird immer wieder mit Massenanstürmen konfrontiert sein. Da es die EU trotz der Erfahrung 2015 versäumt hat, sich darauf vorzubereiten, ist die Frage: Wird sie diesmal daraus lernen und künftig gewappnet sein? Oder werden wieder keine Konsequenzen gezogen, und den nächsten Ansturm müssen erneut die Nationalstaaten, wie bisher Ungarn, Griechenland, die Türkei oder nun Polen, meistern? 

Przyłębski: Seien wir realistisch, die Verteidigung der EU-Grenze wird immer in erster Linie die Sache der Einzelländer sein. Andere EU-Staaten, Frontex oder auch die Nato können nur Beihilfe leisten. Allerdings erwartet Polen Anerkennung für seine Handlungsweise in dieser Krise. Und immer mehr Deutsche bringen diese, etwa in E-Mails an „meine“ Botschaft, dankenswerterweise auch zum Ausdruck.






Prof. Dr. Andrzej Przyłębski, der Philosoph, Kulturwissenschaftler und Diplomat mit einer Professur an der Universität Posen ist seit 2016 Botschafter der Republik Polen in Deutschland und gehört dem „Nationalen Entwicklungsrat“ an, einem Beratungsgremium von Staatspräsident Andrzej Duda. Zuvor lehrte er als Gastprofessor an der TU Chemnitz, war Mitglied der polnischen Akademie der Wissenschaften und Vizevorsitzender der Internationalen Hegel-Gesellschaft. Geboren ist er 1958 in Chmielnik bei Posen.

Foto: Sicherheitskräfte an der polnisch-weißrussischen Grenze: „Ich habe deutsche Diplomaten sagen hören, ‘Grenzen gibt es nicht mehr’ beziehungsweise ‘Grenzen lassen sich heutzutage nicht mehr verteidigen’. Wir begreifen ein solches Denken nicht. Wir zeigen, daß es anders geht“