© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/21 / 19. November 2021

Piks und weg
Corona-Debatte: Ampel will mehr G-Regeln / An allgemeine Impfpflicht traut sich niemand
Mathias Pellack

Die mögliche Ampel-Koalition will 2G (nur Geimpfte und Genesene) und 3G (Geimpfte, Genesene und Getestete) weiterbetreiben, indem sie den Ländern künftig die Einführung entsprechender Regeln ermöglicht. Das kann zu einem Lockdown für Ungeimpfte führen, wie Grünen-Chef Robert Habeck zugab. 

Dies ist aber angesichts der großen Stärke der Schnelltests, den eine neue Studie aus dem Team um den Datenwissenschaftler Alessandro Ferretti belegt, nicht klug. Laut den Oxford-Forschern erreicht eine Reihe von täglichen Schnelltests die Genauigkeit eines professionellen PCR-Tests. Leider ist Deutschenland innerhalb der vergangenen Monate beim Testen europaweit zurückgefallen – Österreich etwa testet 25mal häufiger –, weil hierzulande suggeriert wurde, daß Geimpfte nicht mehr Überträger sein könnten, und auch weil die Testkosten dem Einzelnen auferlegt wurden. Letzteres soll immerhin zurückgenommen werden.

Ungetestete Geimpfte können derweil weiter als „Superspreader“ fungieren und ungeimpfte Verwandte und Freunde, zu denen wohl weniger als jeder vierte Deutsche zählt, anstecken. Die Statistiken sind hier unvollständig (JF 40/21), aber Genesene und Geimpfte machen laut RKI-Erhebungen zusammen über 85 Prozent der Bevölkerung aus. Doch leider erreicht die Impfung keine sterile Immunität – das Virus wird also trotz Piks weitergegeben – und so funktioniert das oft angepriesene Konzept der Herdenimmunität bei Sars-CoV-2 nicht. Auch die in der Ampel diskutierte 3G-Möglichkeit für Arbeitgeber, bei Bahnreisen oder Demonstrationen ist fragwürdig, da die Weitergabe des Virus durch die Impfung nur drei Monate stark verringert ist. Besser wäre es, alle zu testen.

Politik ließ Boosterung, Tests und Anwerbung von Pflegern schleifen

Trotz einer Mehrheit an Geimpften in Deutschland sind es nach wie vor vor allem die Alten und unter ihnen, die alten Ungeimpften, die in großer Zahl mit Covid-19 ins Krankenhaus gehen. Der Altersdurchschnitt auf den Stationen beträgt 69 Jahre. Der aktuelle Wochenbericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) weist für die besonders gefährdete Gruppe der über 60jährigen eine Impfquote von 85 Prozent aus. 

Diese Gruppe macht aber nur 44,9 Prozent der über 60jährigen aus, die ins Krankenhaus mußten. Daß ihr Anteil doch noch verhältnismäßig hoch erscheint, kann verschiedene Gründe haben. Erstens zeigen Studien, daß die Impfung in höherem Alter prinzipiell schlechter anspricht. Bei etwa 10 bis 15 Prozent wirkt sie nicht oder kaum. Zweitens waren die Alten auch die erste immunisierte Gruppe. Hat dann keine Boosterung im Herbst stattgefunden, ist der Immunschutz natürlicherweise verblaßt. Nach fünf Monaten ist er im Schnitt von 90 auf 60 Prozent Schutz vor schwerer Erkrankung abgesunken. Drittens können andere Leiden mehr Personen dieser Altersgruppe ins Hospital geführt haben. Eine Covid-19-Erkrankung wurde möglicherweise nur nebenbei festgestellt. Auch hier fehlen dem RKI wichtige Daten.

Die Zahl der Alten, die wegen Covid in den vergangenen drei Wochen ins Krankenhaus gingen, besteht demzufolge zu 55,1 Prozent aus Ungeimpften. Damit sind Ungeimpfte über 60jährige achtmal häufiger im Krankenhaus als ihre geimpften Altersgenossen.

Aus den Reihen der Lockdown-Befürworter kommen derweil erneut Rufe nach einer Impfpflicht für Pfleger und Ärzte, weiteren Einschränkungen für Ungeimpfte oder gar Schulschließungen. Der neue sogenannte „Not-Schutzschalter“ soll für zwei Wochen umgelegt werden, um den Anstieg der Fälle abzubremsen. Eine generelle Impfpflicht aber halten die Autoren um die Modellierer Viola Priesemann, Kai Nagel, die Virologin Sandra Ciesek und den Intensivmediziner Christian Karagiannidis für „nicht notwendigerweise zielführend“. Diese könne „zögerliche Menschen eher abschrecken und überzeugte Impfgegner auch nicht erreichen“. „Impfgegner“ könnten eher die Strafe bezahlen, als die Spritze in Kauf zu nehmen. Auch der Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen meint, „ohne sofortige Notbremse wird es nicht mehr gehen“. Dahmen fordert ebenfalls eine Impfpflicht für Personen, die in Pflegeheimen oder Krankenhäusern arbeiten, und spricht sich für 3G am Arbeitsplatz und in der Bahn aus.

Dahmen und die anderen Besorgten eint der Gedanke, die steigende Zahl an Covid-Patienten in den Krankenhäusern mache die abermalige Einschränkung der individuellen Freiheit notwendig. Die Rede ist von einer drohenden „Überlastung“ der Krankenhäuser durch die Ungeimpften. Ein Blick auf das Frühwarnzeichen des r-Werts (Anstieg der Infektionszahlen) verrät aber, daß die Welle schon zu brechen beginnt: Ein neuerlicher Lockdown würde also wie im Frühjahr 2020 zu spät kommen. Des weiteren ist in den Daten mittlerweile auch die Effektivität der Impfung zu erkennen. 

Söder: Bayern bekommt Lockdown für Ungeimpfte

Während Dahmen sich sorgt, daß Deutschland den dritten Tag mit einer Inzidenz von über 200 erlebt und daraus ableitet, daß „ca. 1.500 zusätzliche Patienten auf die Intensivstationen in einer Woche“ kommen werden, sind eher 500 bis 700 realistisch, wie der Datenanalyst Daniel Haake auf Twitter bemerkt. Die Sterblichkeit ist indes durch Impfung, natürliche Immunität und verbesserte Behandlungsmethoden (siehe Seite 22) noch weiter abgesenkt.

Kein Grund also für Schulschließungen oder Kontaktsperren. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder macht trotzdem seinem Ruf als Corona-Hardliner alle Ehre. Bei einer Inzidenz von über 500 nennt er die kommenden Tage eine „Woche der Wahrheit“, die entscheidend für den Kampf gegen Ansteckungen sei. Zuerst fordert er eine sinnvolle Haftungsfreistellung für Ärzte, um die Auffrischungsimpfung bereits nach fünf Monaten setzen zu können. Weiter kündigt Söder aber an: Bayern werde 2G quasi überall anwenden. Das sei dann ein „Lockdown für Ungeimpfte“. Ausgenommen bleiben Kinder unter 12 Jahren, für die es noch keine Impfempfehlung gebe.

Die Rücknahme der Moderna-Empfehlung seitens der Ständigen Impfkommission (Stiko) für unter 30jährige wegen Entzündungen des Herzmuskels (Myokarditis) oder des Herzbeutels (Perikarditis), ändert daran nichts. Denn Biontech und Johnson & Johnson blieben verfügbar, auch wenn Biontech ähnliche Komplikationen zeigt – Taiwan stellte mit derselben Begründung den deutschen Impfstoff für 12- bis 17jährige vorübergehend zurück. 

Die Herzproblememe sind laut dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) aber bei Biontech dreimal seltener als bei Moderna. Bei Biontech gibt es nur fünf Verdachtsfälle nach 100.000 Impfungen in der Altersgruppe 12 bis 17 Jahre. Weil der zweite Impfschuß das Risiko erhöht, empfiehlt Großbritannien für Kinder nur eine Dosis Biontech.

Diese Entzündungen sind mit einem Anteil von etwa 2,2 Prozent unter allen Meldungen über mögliche schwere Nebenwirkungen die häufigste. Für die in Deutschland bis dahin verabreichten 105 Millionen Impfungen gab es 172.188 gemeldete Verdachtsfälle, wie das PEI in seinem Sicherheitsbericht vom 30. September schreibt. Davon wiederum waren nur 21.054 schwerwiegend. Kurzum: Unter 10.000 Impfungen gibt es etwa zwei Verdachtsfälle für schwerwiegende Nebenwirkungen, die bis zum Tod (1.802 Fälle) reichen können.

Eine kausale Verbindung zwischen diesen Todesfällen und den Herzentzündungen läßt sich nicht ziehen, wie ein Vergleich der Sterblichkeiten zwischen dem Impfjahr 2021 und dem Vorjahr 2020 in der Altersgruppe der jungen Männer zeigt. Des weiteren belegt eine Obduktionsstudie im Cardiology Journal von Aleksandra Gasecka, daß Herzentzündungen auch unter einem Viertel der Covid-Patienten auftreten und bei fast 40 Prozent der Todesfälle durch Covid ausschlaggebend waren. 

Im Gegenteil läßt sich mittlerweile sogar gut zeigen, daß die Impfungen das individuelle Risiko, an Corona schwer zu erkranken oder gar zu sterben, etwa um den Faktor zehn verringern.





Schäden äußerst selten

Nur einer von 5.000 Geimpften erleidet nach der Impfung schwerwiegende Krankheitssymptome. Doch nicht jede Erkrankung ist eine Nebenwirkung. Die höhere Zahl an Todesfällen bei Biontech führt das PEI darauf zurück, daß es häufig den besonders Vulnerablen gegeben wurde.





Pflegermangel reduziert Bettenzahl

Die Inzidenz ist ein Frühwarnzeichen. Dank der Impfung ist zu erwarten, daß in der 4. Welle wesentlich weniger Personen ins Krankenhaus kommen. Die Inzidenz könnte also weiter steigen, ohne die Krankenhäuser voll zu machen. Der Mangel an Pflegekräften bleibt problematisch.

Foto: Die Impfung ist kein Zaubermittel: Nicht alle, nicht ewig, aber viele sind geschützt