© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/21 / 19. November 2021

Trauer braucht einen Ort
Bestattungskultur in rasantem Wandel: Der christliche Glaube verdunstet, und immer öfter leben die Kinder nicht mehr dort, wo die Eltern sterben. Beide Phänomene spiegeln sich auf den Friedhöfen wider
Martina Meckelein / Christian Rudolf

Das geschichtsträchtige Brandenburg an der Havel, die Wiege der Mark. 72.000 Einwohner, viele alte Kirchen, fast ausschließlich protestantisch. Pfarrer Matthias Patzelt hält als katholischer Geistlicher die Stellung in einem religiös wüst gefallenen Land, denn etwa 80 Prozent der Einwohner des Bundeslandes sind konfessionslos. Zu seiner Pfarrei „Heilige Dreifaltigkeit“ zählen gut 2.700 Seelen. Sterblich zu sein haben die Menschen so an sich, darum gehen wir gleich in medias res: Um die 45 Gemeindemitglieder segnen jedes Jahr das Zeitliche. Doch im Durchschnitt nur etwa 25 werden kirchlich beerdigt, die anderen wünschen für sich kein christliches Begräbnis, oder die Angehörigen entscheiden sich dagegen, berichtet der Pfarrer gegenüber der JF von seinen Erfahrungen. Und gleich, ob kirchlich oder nicht: Urnenbestattungen machten in seiner Gemeinde „mittlerweile etwa die Hälfte aus“, wenngleich sie auch „sicherlich nicht so verbreitet wie im Durchschnitt“ seien. Eine Ursache dafür: „Die Senioren haben es oft nicht geregelt, wie sie begraben werden wollen und denken, ‘meine Kinder wissen schon, daß ich katholisch bin’. Aber die Kinder regeln die Bestattung dann oftmals an der Kirche vorbei, und ich erfahre davon dann nur aus der Todesanzeige in der Zeitung“, erzählt Pfarrer Patzelt von gesellschaftlichen Entwicklungen, die auch vor seiner kleinen Diasporagemeinde nicht haltgemacht haben.

„Wenn im Vorfeld die Frage an mich herangetragen wird, dann ermutige ich immer zu einer Erdbestattung.“ Den Leichnam verbrennen zu lassen, war kirchlicherseits jahrzehntelang ausdrücklich verboten wegen der dahinterliegenden glaubensfeindlichen, atheistischen Motivation. Erst während des Zweiten Vatikanischen Konzils zu Beginn der 1960er Jahre erlaubte die katholische Kirche Lockerungen. „Den Leichnam in ein Grab zu legen war ja das Klassische, das auch einen theologischen Hintergrund hat, der mit dem christlichen Glauben an die auch leibliche Auferstehung der Toten zu tun hat. In der Erdbestattung unterschied sich schon die frühe Kirche von der Praxis der Leichenverbrennung bei den Römern.“

Der Pfarrer nimmt aber auch den Trend hin zu anonymer Bestattung wahr – ohne die Begleitung Angehöriger, preiswert und praktisch, weil ohne Grabpflege. In den östlichen Bundesländern und in manchen Großstädten machen diese namenlosen Beisetzungen mittlerweile rund ein Drittel aller Bestattungen aus, teilt der Bundesverband Deutscher Bestatter mit. „Eine anonyme Bestattung ist kirchlich nicht möglich. Der Name des Verstorbenen muß erhalten bleiben.“ Wenn Menschen sich anonym beisetzen ließen, um den Angehörigen keine Arbeit zu machen, dann sei das „vordergründig gut gemeint, doch man tut ihnen keinen Dienst, weil sie dann auch von ihren Wurzeln abgeschnitten sind“. Trauer braucht einen Ort. So des Pfarrers Erfahrung aus der Seelsorge.

Die Erdbestattung findet in Deutschland auf einem Friedhof statt – es herrscht Friedhofszwang, die Grabstätte muß öffentlich zugänglich sein, einerlei, ob es sich um ein Reihen-/Einzelgrab, ein Wahl-/Familiengrab oder ein anonymes Grab handelt. Kann eine Familiengrabstätte in der Regel auch über Generationen verlängert werden, ist beim Reihengrab eine Verlängerung nach Ablauf der Ruhefrist nicht vorgesehen.

Kostendruck und Mobilität   treiben Veränderungen an

Bei den Feuerbestattungen sind viele Variationen möglich: Klassische Beisetzung in einem Urnengrab auf dem Friedhof, Wald- oder Baumbestattung in Friedwäldern mit oder ohne geistliche Begleitung oder die Seebestattung in Nord- und Ostsee. Apartere Formen wie die Luftbestattung – die menschliche Asche wird aus einem Hubschrauber, einem Flugzeug oder vom Fesselballon aus verstreut – oder die Diamantbestattung – aus einem kleinen Teil der Asche des Verstorbenen oder aus dessen Haaren wird in einem speziellen Verfahren ein Diamant hergestellt – sind in Deutschland nicht zulässig; oder vorsichtiger gesagt, noch nicht, denn Sittliches, Tradiertes, Überliefertes ist seit Jahren in schnellem Wandel begriffen oder wird ganz ohne Kulturkampf abgeräumt.

Im Bundesverband Deutscher Bestatter e.V. (BDB) sind über 3.100 Bestattungsunternehmen mit rund 4.500 Filialen vertreten und damit rund 81 Prozent aller deutschen Bestatter. Aus- und Weiterbildung und darüber hinaus Qualitätssicherung und Erhalt und die Förderung der Bestattungskultur und des Berufsethos sind seine Ziele. 2005 wurde die Theo-Remmertz-Akademie, das Bundesausbildungszentrum der Bestatter im unterfränkischen Münnerstadt, eröffnet.

69 Prozent aller Bestattungen in Deutschland sind Feuerbestattungen, nur noch 31 Prozent Erdbestattungen. Vor 25 Jahren war das Verhältnis noch genau umgekehrt – die Geschehnisse auf dem Friedhof sind also auch ein Indikator für einen tiefgreifenden kulturellen Wandel. Ein Begräbnis muß allerdings nicht unbedingt ins Geld gehen: Eine einfache Urnenbestattung ohne aufwendigen Grabschmuck kann in Berlin bei 1.500 Euro beginnen, eine Bestattung im Kiefernsarg ist für den, der sparen muß, auch bereits für 2.500 Euro zu bekommen. Nach oben hin gibt es natürlich keine Grenzen – Eiche und Marmor haben ihren Preis. Hinzuzurechnen sind indessen immer die amtlichen sowie die Friedhofs- und gegebenenfalls Kremationsgebühren.

Doch was geschieht, sollte der nächste bestattungspflichtige Verwandte eben kein Geld für den letzten Dienst haben? Dann gibt es die Möglichkeit der Sozialbestattung nach Paragraph 74 SGB XII. Beim Sozialamt des Sterbeortes des Verstorbenen können die Hinterbliebenen einen Antrag auf eine Sozialbeerdigung stellen. Dabei kann es sich auch schon um arme Rentner oder Personen mit niedrigem Einkommen handeln.

An den Sargträgern spart man allerdings auch außerhalb der Sozialsphäre: Oft bleibt es bei vier Trägern statt sechs. Übrigens ein Ehrenamt, das heute mit durchschnittlich 25 Euro die Stunde entlohnt wird. Früher legten Freunde und Verwandte Hand an, heute sind es Fremde. Kamen früher zum Leichenschmaus hundert Personen, sind es heute auf dem Friedhof oftmals nur noch eine Handvoll.

Das hat vielfältige Gründe: Die Menschen werden älter, der Freundes- und Bekanntenkreis ist dementsprechend ausgedünnt. Durch die selbstgewählte oder durch Firmen geforderte Mobilität leben einzelne Familienmitglieder oftmals über das ganze Land oder weit im Ausland verstreut. Es sind eben diese Menschen, die früher die Totenwache hielten und den Sarg trugen. Weite Entfernungen oder berufliches Eingespanntsein bedingen es, daß sie heute immer seltener den Weg auf den Friedhof zum letzten Geleit finden. 

Den Trend zu Urnengräbern oder Urnenwänden, den Columbarien, deutet Ralf Michal, BDB-Vizepräsident, eben in dieser Richtung: Sie sind pflegeleichter. „Das hängt natürlich auch damit zusammen, daß die Angehörigen oder auch die Familien keine Grabpflege mehr wollen oder zum Teil auch keine Grabstätte überhaupt mehr möchten, an die sie gebunden sind. Weil die Bevölkerung natürlich immer mehr nomadisiert, das heißt, wir werden mobiler, und die Kinder leben nicht mehr da, wo die Eltern bestattet wurden.“

Der Tote verläßt mit den Füßen voran seine irdische Heimstatt

Nur noch 51 Prozent der Bevölkerung gehörten Ende des vergangenen Jahres der katholischen Kirche oder der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) an; hinzu kommen die orthodoxen und freikirchlichen Christgläubigen. Die Abkehr vom überlieferten christlichen Glauben und dessen Werten, insbesondere der Überzeugung einer leiblichen Auferstehung aus dem Grab am Tag des Jüngsten Gerichts, hat zur Folge, daß auch die traditionellen christlichen Bestattungs- und Gedenkformen immer weniger angenommen werden – auf den Friedhöfen geht es individueller und subjektiver zu.

Rüdiger Kußerow aus Berlin übt wie sein Großvater und Vater den Beruf des Bestatters aus. Ein Mann mit Erfahrung. „Diese Geschichten, daß der Trend zum selbstbemalten Sarg hingeht, kann ich nicht bestätigen. Das habe ich bisher erst einmal erlebt. Da hat die Mutter einer 13jährigen Tochter, die an einem perforierten Blinddarm gestorben war, den Sarg für ihr Kind mit eigener Hand bemalt“, berichtet der Bestatter, der seit seinem 19. Lebensjahr im Beruf ist, der JF. „Heute sprechen mehr Angehörige ein letztes Wort am Sarg als früher. Und die Musik kommt vom MP3-Player.“ Grundsätzlich seien die Bestattungswünsche aber regional sehr verschieden. Das liege auch an der Konfession: „In Bayern als katholischem Land werden Sie weitaus weniger Feuerbestattungen haben als hier in Berlin. Hier, schätze ich, sind es 70 Prozent Feuerbestattungen. Diese Entwicklung hat in den 1980er bis 2010er Jahren stark zugenommen.“

Was bleibt noch von alten Traditionen? Der Tote verläßt mit den Füßen voran das Pflegeheim, das Krankenhaus oder seine vier Wände, in denen er Jahrzehnte gelebt hat. Der Tote soll nicht zurückblicken, seine Augen sollen geschlossen oder nach oben gerichtet sein. „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Hebräerbrief 13, Vers 14. Auch wenn die Hälfte des Volkes nicht mehr weiß, was das für ein Schriftstück ist.

Foto: Der Sarg wird bei einer Erdbestattung ins Grab hinabgelassen; zur Vorbereitung einer Feuerbestattung wird der Sarg mit dem Leichnam bei 850 Grad im Krematorium eingeäschert; Baumgrab im Friedwald (v. r. im Uhrzeigersinn): Individueller und subjektiver auch am Grab