© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/21 / 19. November 2021

Lukrativer Menschenhandel
Kurden-Experte Ferhad Seyder über Iraker-Invasion in Belarus: Der Druck zeigt Früchte
Curd-Torsten Weick

Sehr geehrter Herr Professor Ferhad Ibrahim Seyder, seit Anfang 2021 haben mehr als 30.000 Migranten versucht, die polnisch-weißrussische und die litauisch-weißrussische Grenze zu überqueren. Am Montag versuchten mehrere tausend illegale Migranten – darunter viele irakische Staatsbürger aus der Gegend von Behdinan, Sulaymaniyya und Shiladze – die polnische Grenze zu durchzubrechen. Warum gerade irakische Kurden?

Ferhad Ibrahim Seyder: Der Wiederaufbau der kurdischen föderalen Region im Nordirak, der 2003 nach dem Sturz Saddam Hussein begann, hat strukturelle Schwächen, aber bewirkte auch eine auffallende Prosperität. Um die Frage zu beantworten, warum so viele junger Männer aus der einst prosperierenden Region nach Minsk reisen, muß man deren aktuelle prekäre ökonomische und soziale Lage betrachten. Für die Industrie waren die Bedingungen eher schlecht. Das kurdische Unternehmertum verfügte über keine Erfahrungen, und die Baubranche war lukrativer, weil die Gewinne fast garantiert waren. Doch verfügte die kurdische Region im großen und ganzen über keine Fachkräfte. Selbst die Baubranche beschäftigte Arbeiter aus der Türkei und aus anderen nahöstlichen Ländern. Der Wunsch der irakischen Kurden ist eine Beschäftigung in der Verwaltung und in den sonstigen Branchen des staatlichen Sektors. Dieser ist jedoch ein großer Wasserkopf. Die Erlöse des Erdöls und des Erdgases werden zum größten Teil für die Finanzierung des öffentlichen Sektors verbraucht. Es kommt hinzu, daß der fragile irakische Staat die kurdische Region mit in die umfassende Krise zog. Wenig Perspektiven für junge Männer also.

Wie kam die Verbindung mit Weißrußland zustande?

Seyder: Die Migration und die Flucht aus dem irakischen Kurdistan hat eine lange Geschichte. Sie begann mit der Niederlage der Kurden im Krieg gegen Saddams Truppe 1975, während und infolge des iranisch-irakischen Krieges (1980–1988) sowie nach dem Einsatz des Giftgases durch die irakische Armee 1987/88. Nicht zu vergessen die große Flucht vom Frühjahr 1991. Die irakischen Kurden suchten immer wieder nach einer Möglichkeit der Migration. Freunde und Verwandte in den Zielländern Deutschland und Skandinavien forcieren den Druck. Die Nachrichten über die Migrationsmöglichkeit über Weißrußland verbreiteten sich in Windeseile über die Sozialen Medien und durch die Netzwerke der Bekannten, die bereits in Westeuropa leben. 

Die litauische Nachrichtenagentur LRT berichtete Mitte Juli über Schleuser in Kurdistan, aber auch in Minsk. Erstere erklärten Interessenten, daß die Einreise nach Europa über Weißrußland legal sei, da irakische und weißrussische Reisebüros Touristenvisa ausstellten. Alles ein großes Geschäft?

Seyder: Die „Infrastruktur“ der Migration war und ist in der föderativen kurdischen Region, aber auch im gesamten Irak und im Nahen Osten äußerst aktiv und sehr gut vernetzt. Vielleicht ist diese vernetzte „Dienstleistungsbranche“ die einzige funktionierende Institution im Mittleren Osten. Es gibt keine Handhabe, sie zu verbieten, weil die Migration in allen Ländern des Nahen Osten positiv gesehen wird. Selbstverständlich wurde die Migration nach Belarus als legal betrachtet. Es scheint mir, daß der Druck der Migrationsländer nicht ausreichend und ineffektiv war. 

Am 14. Mai landete der erste Fly-Baghdad-Flug auf dem Flughafen Minsk. Werbevideos von Fly Baghdad zeigen auf Facebook, wie der Fluggast mit Wasserfontänen am Flughafen begrüßt wird und Menschen Blumen und Süßigkeiten erhalten. Ein Hussein Ali postete dazu bei Facebook: „Reise nach Britannien, ich will gehen“. Welche Rolle spielt Bagdad?

Seyder: Länder wie der Irak, Syrien oder der Libanon sind fragile beziehungsweise gescheiterte Staaten. Warum sollten sie die Migration verbieten? Die Migration wird als ein Segen betrachtet. Zum einen wird der Druck auf den Arbeitsmarkt vermindert. Zweitens haben die Migranten eine doppelte Funktion: Geldüberweisung in die Heimat und Unterstützung der Freunde und der Verwandten bei der Migration. 

Sie versuchen über kurz oder lang einen anderen Weg zu finden Meer Sahebqran, Inhaber der irakischen Tourismus-agentur Smile Holiday for Travel and Tourism, hat gegenüber Medien berichtet, daß Iraker, die nach Weißrußland ausreisen, gebeten werden, eine Kaution von 3.000 US-Dollar zu hinterlegen. Diese Summe werde verwendet, um Geldstrafen an Weißrußland zu zahlen, falls ein Reisender nicht in den Irak zurückkehrt, so Sahebqran. Also ein Minusgeschäft?

Seyder: Was Meer Sahebqran behauptet, ist keine gesicherte Information. Vielmehr wird ein Ticket im Rahmen eines Gesampakets verkauft, nämlich die Einreise nach Minsk und Hilfe auf dem weiteren Weg bis nach Deutschland. Die Preise dafür differieren von Fall zum Fall. Medien berichten von 15.000 Dollar für das All-Inclusive-Reisepaket. Alle, die am Netzwerk der „illegalen“ Migration beteiligt sind, profitieren aber von diesem Geschäft. 

Iraks Außenamtsprecher Ahmed Al-Sahaf gab am vergangenen Freitag die vorübergehende Aussetzung der Arbeit des weißrussischen Honorarkonsuls in Bagdad bekannt. Er betonte, „dieser Schritt erfolge, um irakische Bürger vor Menschenschmuggel durch Rußland und Polen zu schützen“. Auch könnten irakische Staatsbürger auf „freiwilliger“ Basis in ihre Heimat zurückkehren. Die irakischen Behörden hätten im Grenzgebiet „571 Iraker registriert“, die sich bereit erklärt hätten, dies zu tun, so al-Sahaf. Eine Kehrtwende? Oder nur leere Versprechungen??

Seyder: Ja, der Honorarkonsul Weißrußlands in Erbil wurde gebeten, keine Einreisevisa für die Iraker auszustellen. Dies kann der politische Druck der EU-Vertretung und des deutschen Konsulats in Erbil bewirkt haben. Der Irak hat übrigens immer betont, daß die Iraker jederzeit in ihrer Heimat willkommen seien. Sie sind mehrheitlich keine politischen Verfolgten und fürchten keine Sanktionen des Staates. Dies gilt für die föderative Regierung in Bagdad, aber auch die der Autonomen Region Kurdistan in Erbil. Ob die Iraker, die in der Erwartung eines besseren Lebens in Westeuropa große Gefahren auf sich genommen haben, wirklich zurückkehren wollen, ist noch nicht sicher. Solange die Hoffnung besteht, daß Deutschland die Migranten aufnehmen könnte, werden vermutlich sehr wenige Migranten sich repatriieren lassen wollen. Im übrigen wissen wir aus den Gesprächen mit den Migranten, die Deutschland erreicht haben, daß der Mißerfolg bei dem Versuch, das Zielland zu erreichen, sie nie entmutigt hat. Man versucht über kurz oder lang einen anderen Weg zu finden, um Westeuropa respektive Deutschland zu erreichen. 

Die staatliche belarussische Fluglinie Belavia hat auf Anordnung aus Ankara ein Flugverbot für Menschen aus Syrien, dem Irak und dem Jemen von der Türkei nach Belarus verhängt. Welche Rolle spielt Ankara in dem Spiel?

Seyder: Ich denke, die Türkei hat keinerlei Interesse daran, als Partner Lukaschenkos bei dem Migranten-Transport zu erscheinen. Ankara will seinen Migrantendeal mit der EU stabil halten und braucht keine sinnlosen Krisen mit der EU. 

PKK-Medien wie die „Mezopotamya Ajansi 35“ betonen, daß Ankara in Zusammenarbeit mit Moskau und Minsk plane, Flüchtlinge als Waffen gegen die EU einzusetzen sowie die Föderierte Kurdistan-Region sowie Nord- und Ostsyrien zu leeren? Entspricht das der Wahrheit?

Seyder: Die PKK lebt in einer sehr eigenartigen konstruierten Welt. Sie hat über vier Dekaden und bis heute ihre eigenen Anhänger sehr effektiv nach Westeuropa geschleust. Die Migration aus den kurdischen Gebieten Syriens begann in großer Ordnung. Seit 1990 bis zum arabischen Frühling kamen cirka 100.000 syrische Kurden nach Westeuropa oder immigrierten in den Irak. Die Türkei spielt in dieser Frage nur eine Rolle: Destabilisierung dieser Gebiete. Die PKK tut das gleiche!






Prof. Dr. Ferhad Ibrahim Seyder leitete bis 2020 das Fachgebiet Kurdische Studien an der Universität Erfurt und ist nun emeritierter Professor für Politik- und Sozialwissenschaften