© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/21 / 19. November 2021

Sorge vor weiteren Grenzverletzungen
Polen/Belarus: Auch nach zehn Tagen sind die Fronten in der Migrationsfrage verhärtet
Jörg Sobolewski

Es sind teilweise erschreckende Bilder, die aus dem Grenzgebiet zwischen Weißrußland und der Europäischen Union an die Öffentlichkeit gelangten. Amateurvideos aus den sozialen Netzwerken zeigten lange Trecks von mehrheitlich jungen Männern auf dem Weg zum Grenzübergang Kuźnica. Dort hoffen bereits Hunderte, wenn nicht Tausende weitere Migranten auf eine Öffnung der Grenze.

 Doch bis Dienstag blieben die polnischen Grenzbeamten und Soldaten hart. Immer wieder schallte es von polnischer Seite in mehreren Sprachen aus den Lautsprechern: „Sie wurden getäuscht, die Grenze wird heute nicht geöffnet. Keine Busse sind hier, um Sie nach Deutschland zu bringen. Gehen Sie zurück.“ 

Das schien aber nicht mehr ohne weiteres möglich zu sein. Bilder polnischer Kameradrohnen zeigten eine weitere Polizeikette hinter dem provisorischen Migrantenlager. Bewaffnete Einheiten der weißrussischen Polizei und Militär versperrten den Gestrandeten den Rückweg nach Minsk. Nach Aussagen polnischer Behörden handelte es sich bei den Männern im Rücken des Camps teilweise um Angehörige weißrussischer Spezialeinheiten. 

Brüssel will noch mehr Sanktionen auf den Weg bringen 

Deren Entsendung rief bei polnischen Sicherheitsleuten Sorgen um weitere Grenzverletzungen hervor. Tatsächlich setzte die weißrussische Seite seit Tagen auch auf eine Zermürbung der polnischen Kräfte. Neben dem Blenden durch Laserpointer und Stroboskoplichter berichteten Beiträge auf dem Kurznachrichtendienst Twitter auch von Schüssen in die Luft, mit denen die Polen in ständige Alarmbereitschaft versetzt werden sollten. 

Auch die weißrussischen Staatsmedien sind mit von der Partie, ein weiteres Video zeigt eine Familie die von Soldaten vor den Stacheldraht der Grenze geführt werden. Das Kalkül der Regierung in Minsk scheint klar: Bilder mit leidenden Frauen und Kindern sollen die Abwehrbereitschaft vor allem in Westeuropa schwächen. Berichte über eine mögliche Massenpanik in den frühen Morgenstunden am Montag dieser Woche blieben bisher unbestätigt.

 Die polnische Regierung wirft dem Nachbarland überdies vor, einzelne Migranten mit Pfefferspray und Schlagwaffen auszurüsten, um einen Grenzübertritt zu erzwingen. Auch von polnischer Seite kommt es zum Einsatz nicht letaler Waffen. So wurde am Dienstag vormittag ein Angriff aufgebrachter Flüchtlinge auf polnische Grenzbeamte durch den Einsatz von Tränengas zurückgeschlagen. Polens Verteidigungsminister sprach von einem konzertierten Angriff, den weißrussische Kräfte durch die Lieferung von Blendgranaten an Migranten unterstützt hatten. Mittlerweile wurde die polnische Seite durch Wasserwerfer verstärkt, die britische BBC spricht von dem Eindruck einer „gut vorbereiteten Provokation“ der weißrussischen Seite. In Kuźnica solle „die Bereitschaft der EU und Polens“ zu einer harten Reaktion getestet werden, so der BBC-Journalist Steve Rosenberg.

Die EU-Kommission kündigte unterdessen an, angesichts der „Instrumentalisierung von Migranten für politische Zwecke“ die Bandbreite an Sanktionen gegen die Regierung von Präsident Lukaschenko zu erweitern. In Frage kämen künftig auch Sanktionen gegen weitere Angehörige des Regimes sowie weitere Organisationen und Unternehmen aus dem Umfeld des umstrittenen Staatschefs. Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis forderte weitere Schritte gegen Fluglinien, die Migranten nach Weißrußland fliegen. Der Airport von Minsk müsse eine „No-fly-Zone“ werden, so der Politiker. Lukaschenko selbst warnte vor weiteren Sanktionen, sein Regime sei zur Vergeltung bereit, kündigte er in einer Kabinettssitzung am Montag an. 

Lukaschenko wäscht seine Hände in Unschuld

In einem Telefonat zwischen dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin habe man über die Lage an der Grenze gesprochen und sei übereingekommen, „die Lage deeskalieren zu wollen“. Zuvor kam es bereits zu einem Telefonat zwischen Angela Merkel und Alexander Lukaschenko über die jüngsten Vorgänge an der Grenze. 

Ein Vorgang, den einige als Teilerfolg für den weißrussischen Machthaber deuten. Denn diesem wurde bisher von westlicher Seite die Legitimität als Regierungschef abgesprochen. Nach den umstrittenen Wahlen im August 2020 und anschließenden Übergriffen auf Demonstranten durch Sicherheitskräfte hatte die EU Widerstand gegen „Europas letzten Diktator“ angekündigt, wie Lukaschenko immer wieder bezeichnet wird. 

Dieser wusch nach dem Gespräch mit der Noch-Bundeskanzlerin seine Hände in Unschuld: „Aber sie wissen nicht, daß nicht wir sie hierher rufen. Und sie wissen nicht, daß wir rund 5.000 Personen in diesem Herbst zurückgewiesen haben. Wir sammeln also nicht überall auf der Welt Flüchtlinge ein und bringen sie nicht nach Belarus, wie Polen die EU informiert. Diejenigen, die legal nach Belarus kommen, nehmen wir hier auf. So wie in jedem anderen Land auch. Diejenigen, die auch nur den geringsten Verstoß gegen das Gesetz begangen haben, werden in ein Flugzeug gesetzt und zurückgeschickt. Das sind bereits 5.000 Personen, die zurückgeschickt wurden“, erklärte Lukaschenko und ließ am Dienstag abend einen Großteil der Migranten in einem Logistikzentrum nahe der Grenze unterbringen.