© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/21 / 19. November 2021

Kartons statt Bücher
Papierindustrie: Eine Branche in einer Mangelwirtschaft / Anhaltende Preissteigerungen
Paul Leonhard

Europaweit stöhnen die Verlage: Graphisches Papier für Zeitungen, Werbeprospekte, Plakate und Aufkleber ist knapp. Wie knapp, bekamen die Schweizer zu spüren, als Anfang Oktober in einer Papierfabrik ein Brand ausbrach. Mehrere Zeitungen, darunter die NZZ, mußten ihre Umfänge für Wochen kürzen. Da seit Monaten Zeitungspapier in ganz Europa fehle, konnte auch kein Papier aus anderen Ländern zugekauft werden, teilte das Verlagshaus Tamedia mit.

In Österreich ruft Gerald Watzal, Verbandspräsident Druck/Medien, die Papierhersteller auf, heimische Kunden vorrangig zu behandeln und die Kapazitäten für graphisches Papier zu steigern. Auch der deutsche Bundesverband Digitalpubli­sher und Zeitungsverleger warnt vor einer Unterversorgung. Und da die Nachfrage das Angebot übertrifft, explodieren die Preise: Zeitungspapier war laut Statistischem Bundesamt im September um 13,3 Prozent teurer als im Vorjahresmonat. Wellenpapier, das aus Altpapier hergestellt und zur Polsterung von Verpackungen und Kartons genutzt wird, verteuerte sich sogar um 78,5 Prozent.

Nach Angaben des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels ist die Zeit für den Druckauftrag inklusive Papierbestellung um das Vier- bis Sechsfache gestiegen. Und das in einem Land, das als die Papierfabrik Europas gilt. Überraschende Erfolge bei Titeln seien eine „größere Herausforderung“, sagte Florian Enns vom Rowohlt-Verlag der ARD-„Tagesschau“: „Vor allem bedingt durch stark ansteigende Energiekosten sehen sich offenbar viele Zulieferer unserer Druckereien gezwungen, auch bei teilweise bereits bestätigten Aufträgen rückwirkend die Preise anzuheben.“ Von einer doppelten Papier- und Logistikrise spricht auch Jo Lendle, Leiter des Hanser-Verlags: Die Herstellungszeiten von Büchern seien länger geworden. Nachdrucke würden sich um Monate verzögern.

Alarmierend ist der Preisanstieg beim Altpapier. Hundert Tonnen Papier bestehen in Deutschland zu 79 Prozent aus Altpapier, der Rest sind Zellstoff oder Holz. Und obwohl es ein eingespieltes Sammelsystem von Altpapier gibt, ist Deutschland in Sachen Altpapier Nettoimporteur – und die Einfuhrpreise stiegen um 75 Prozent. Bei Zellstoff, einem Rohstoff für Toiletten- bis Schreibpapier, stiegen die Importpreise um 45,7 Prozent. Und: Die energieintensive Papierindustrie in Deutschland ist eine der größten der Welt – mit 160.000 Beschäftigten und einem Umsatz von 45 Milliarden Euro.

Und der Preisanstieg hält an, berichtet die Firma Fastmarkets Foex, die Indizes für den Papiermarkt erstellt. Kostete im August eine Tonne Altpapier knapp 170 Euro, liegt der Preis inzwischen bei 200 Euro. Dabei schien es noch 2019, als habe Altpapier überhaupt keinen Wert mehr. Überall hingen bei den Aufkäufern Schilder, daß man kein Papier mehr entgegennehme sowie Pappen und Taschenbücher nur noch gegen Zuzahlung. Die Ursache waren neue Gesetze in China. Die Volksrepublik hatte ein Importverbot für viele Sorten von Altpapier eingeführt. Während der Corona-Pandemie stellten dann die Papiermühlen ihre Produktion um. Sie reagierten auf die steigende Nachfrage nach Verpackungspapier bei Amazon, Otto & Co. Zudem wurden seit 2016 in Europa Papierproduktionskapazitäten von 8,2 Millionen Tonnen abgebaut. Der finnisch-schwedische Papierproduzent Stora Enso stellte viele seiner Fabriken auf Verpackungskartons für den Onlinehandel um, allein in Finnland nahm er 2020 mehr als eine Million Tonnen holzfreies Papier vom Markt.

„Lieferketten und die Kreisläufe kamen durch Covid-19 außer Tritt“

Der Nachfragerückgang bei graphischem Papier betrage 15,3 Millionen Tonnen (minus 44 Prozent), erinnerte jetzt Winfried Schaur, Präsident des Verbandes der Papierindustrie, bei einem Krisengipfel des Bundesverbandes Druck und Medien (BVDM) mit 330 betroffenen Firmen der Druckindustrie und von Verlagen. Coronabedingt habe sich diese Entwicklung in den vergangenen 20 Monaten noch verschärft. Gleichzeitig sei der Bedarf an Zellstoff in Ländern wie China aufgrund einer anziehenden Konjunktur und geringerer Importe von Altpapier gestiegen. „Das System, die Lieferketten und die Kreisläufe kamen durch Covid-19 außer Tritt“, sagt Winfried Schaur, Vorstandsmitglied des finnischen Papierherstellers UPM. Altpapier sei eben kein normaler Rohstoff, sondern einer, der „anfällt“. Derzeit sei die Nachfrage nach Altpapier sehr hoch, erklärte Thomas Braun, Geschäftsführer beim Bundesverband Sekundärrohstoffe (BSVE). „Gleichzeitig liegt das Altpapiersammelaufkommen auf vergleichsweise niedrigem Niveau.“

Papier- und Druckindustrie versuchen zwar, das System wieder zu stabilisieren, was schwierig ist, angesichts immer neuer Teuerungen, die der Staat den Unternehmen mit Klimaschutzabgaben beschert. Die steigenden Preise für Energie, Rohstoffe und Frachtraten sowie die Versorgungsengpässe bei Roh- und Hilfsstoffen werden die Druckereien wohl an die Verlage weitergeben müssen und die an ihre Kunden. Von „alarmierenden Produktionsbedingungen“ in den Druck- und Medienbetrieben spricht der BVDM. Verlage könnten nicht in dem Umfang drucken, wie sie es geplant haben. „Die Papierbranche muß sich jetzt als Partner erweisen, der die Preisschraube nicht überdreht – das wäre fatal“, warnt Stephan Scherzer, Hauptgeschäftsführer des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger.

Denn auf dem BVDM-Krisengipfel wurde auch der Vorwurf laut, die Papierhersteller hätten zwar Druckereien die Kaufkontingente gekürzt oder Liefertermine erst in Monaten in Aussicht gestellt, aber große Industriekunden in einzelnen Fällen sofort direkt beliefert. Diesem Verdacht werde man jetzt nachgehen, sagte Stephan Krauss, Chef des Bundesverbandes des Deutschen Papiergroßhandels. Er räumte auch ein, daß es für Druckereien schwierig sei, mit Kunden Verträge für 2022 zu schließen, wenn es keine Preis- und Liefertendenzen seitens der Papierlieferanten gebe. Krauss warb für eine bessere Kommunikation.

Dahinter steckt auch die Angst der Papierindustrie, daß zumindest die Zeitungsverleger noch stärker aufs Online-Geschäft setzen, wo sie Druck-, Papier- und Zustellungskosten einsparen können. Damit jedoch, warnt Krauss, verlören auch die ökologischen Vorzüge von bedrucktem Papier gegenüber den Umweltbelastungen durch Onlinemedien zum Nachteil der gesamten Wertschöpfungskette Print an Boden. Neu ist die gesamte Problematik übrigens nicht. Schon im Jahr 2000 war Papier knapp gewesen und die Preise damals um 20 Prozent angestiegen. Schuld waren damals angeblich der hohe Dollar-Kurs und der Anzeigenboom.

Foto: Arbeiter in der brandenburgischen Papierfabrik Leipa: Ein wichtiger deutscher Industriezweig mit einem Umsatz von 45 Milliarden Euro