© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/21 / 19. November 2021

Dorn im Auge
Christian Dorn

Wenn einer eine Reise macht, dann kann er was erzählen, vor allem, wenn es sich zu einer ungeplanten Zeitreise entwickelt, zumal, wenn diese gleich in verschiedene Epochen führt. So durch die Zugfahrt im ICE mit der Aufschrift „Schnellster Klimaschützer“, die mich sogleich an die elendig sinnfreien Standardlosungen im DDR-Sozialismus erinnert. Zugleich schlüpft der sich als „Zugführer!“ vorstellende Schaffner in die so opportunistische wie tyrannische Figur des Untertans Diederich Heßling. Dessen Auftritt beginnt kurz vor Mitternacht mit der plötzlichen Ansprache eines Mitreisenden, einer offenbar migrantischen „Fachkraft“ der Jahre 2015ff., der vom Kontrolleur gesagt wird: „Hallo, Sie steigen also in Bamberg aus.“ Darauf der verdutzte Fahrgast: „Wieso, ich fahre doch bis Berlin.“ Darauf Heßling 2.0, als folge er dem US-amerikanischen Strafvollzugsmotto „Three strikes and you are out“, einer aus dem Baseball entlehnten Regel (vermutlich, da der Zugführer selbst „einen Hau“ weg hat): „Ich bin dreimal an ihnen vorbeigegangen, und Sie haben jedesmal die Maske nicht korrekt aufgesetzt. Daher werden Sie am nächsten Halt in Bamberg aussteigen – oder soll ich für Sie noch eine Ausstiegshilfe bestellen?“ Aus unerfindlichen Gründen, vielleicht der Frucht, der Fremdenfeindlichkeit geziehen zu werden, darf der Fahrgast dann doch sitzen bleiben. Dafür werden in Bamberg drei Autochthone vor die Tür gesetzt, weshalb der Zug laut Durchsage „voraussichtlich 10 Minuten Aufenthalt hat wegen eines Polizeieinsatzes.“ Neugierig laufe ich bis zum Bistro-Abteil, wo die Reisenden vor die Tür gesetzt worden sind. Dort erklären sie den herbeigerufenen Polizisten, wie die Kommunikation einzig und allein durch den Zugführer eskaliert sei. Währenddessen fragt mich die zierliche, aus Frankreich stammende Schaffnerin: „Seltsam, wieso wird man in Deutschland immer gleich >Nasi< genannt?“ Angesichts des obligaten „Maskenballs“ realisiere ich erst mit Verzögerung, daß sie nicht die „Nase“ sondern das „Nazi“-Verdikt meint. 

Der Zugführer, Diederich Heßling 2.0, baut sich vor mir auf, neben sich die beleibte Gefängniswärterin.

Als der Zug wieder fährt, bestelle ich beim Bistromitarbeiter ein Bier, um „auf das Wohl der drei Helden zu trinken“. Dies hört offenbar der Zugführer, der gerade hinter mir durch den Wagen läuft und dem Mitarbeiter daher etwas zuruft. Darauf ich zum Bistro-Mann: „Hat der sich über mich geäußert?“ Antwort: „Das müssen Sie den Herrn Zugführer schon selber fragen.“ Wieder ich: „Auf den Kontakt zu Menschen, die hervorragend in einer Diktatur funktionieren würden, verzichte ich lieber.“ Nicht so Heßling 2.0. Kaum sitze ich wieder an meinem Platz, baut er sich vor mir im Gang auf, neben sich eine beleibte Zugbegleiterin, die wie eine Gefängniswärterin wirkt mit an der Hüfte baumelnden Handschellen, und fordert mich auf, ihm nach draußen zu folgen – gerade so, als handele es sich hier um eine Gefährderansprache. Im folgenden Verhör soll ich wiederholen, was ich zum Bistro-Mitarbeiter gesagt habe, was ich, auch mit dem Hinweis darauf, Pressevertreter zu sein, verweigere. Am Endbahnhof ist derweil der anfangs angezählte Fahrgast im tiefsten Schlaf – jetzt braucht er wirklich eine Ausstiegshilfe.