© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/21 / 19. November 2021

Alles neu macht die Große Transformation
Logik der Moderne: „Corona“ und „Klima“ bilden den Schlußstein in der historischen Reihe globaler Neuordnungsprozesse
Felix Dirsch

In zentralen Gegenwartsdebatten greift eine enorme Transformitis (Technik, Ökonomie, Politik) um sich. Besonders in Diskursen, die sich um den vieldeutigen Begriff „Digitalisierung“ drehen, kommt man selten ohne Rekurs auf einen fälligen Neustart aus.

Stellt man epochenübergreifende Betrachtungen an, stößt man schnell auf ein Schlüsselnarrativ der Moderne: Die derzeitige Krise ist demnach die größte, aber am Horizont zeichnet sich ein besseres, schöneres Dasein ab. Marx konkretisiert diese Vorstellung im postkapitalistischen „Reich der Freiheit“. Ebenfalls stehen in dieser Tradition jene, die den heilsträchtigen Ausweg einer kohlendioxid- und infektionsfreien Zukunft als Rettung vor der Katastrophe sehen. Der Historiker Reinhart Koselleck interpretierte derartige semantische Optionen als Säkularisierung der christlichen Idee vom „Jüngsten Gericht“. 

Der italienische Geschichtsdenker Giambattista Vico (1668–1744) hat die generelle Logik der Neuzeit seit dem 16. Jahrhundert in dem berühmten Satz formuliert: „Verum et factum convertuntur“. Wahr ist demnach (nur), was der Mensch fabriziert. Das Mittelalter hatte das Sein zuerst mit Gott in Verbindung gebracht.

Einen frühen neuzeitlichen Ordnungsentwurf finden wir im Anschluß an den Dreißigjährigen Krieg. Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger verweist in seinem Buch „Weltordnung“ darauf. Er spricht davon, daß die Friedensverhandlungsführer in Münster und Osnabrück 1648 nicht ahnen konnten, „das Fundament für ein global anwendbares System“ gelegt zu haben. Im Westfälischen Frieden beschloß man eine Perpetuierung der Pluralität, die als Teil des europäischen Sonderwegs seit dem Mittelalter zu erkennen ist: Die Territorien stiegen mehr und mehr zu Staaten auf. Sie wurden zu Subjekten des Völkerrechts und blieben es formal bis heute.

Ebenso bedurfte die Epoche nach der Französischen Revolution und ihrer vielfältigen Folgen stabiler Verhältnisse. Der Wiener Kongreß 1814/15 wollte die vorrevolutionäre Ordnung wiederherstellen. Die Staatsmänner strebten auf diesem Treffen eine Neugestaltung unter dem Aspekt des Gleichgewichts der Kräfte an. Die Gründung der Heiligen Allianz ist vor christlich-ökumenischem Hintergrund zu verstehen. Die Mächte Österreich, Rußland und Preußen versuchten, den revolutionären Gärungen entgegenzuwirken.

Finanzeliten liebäugeln mit einer Vermögensumverteilung

Auch im 20. Jahrhundert finden wir nach größeren Zäsuren neue Weltordnungskonzeptionen. Die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg bedeuteten eine starke Belastung für das neue kollektive Sicherheitssystem, das, vom Völkerbund errichtet, das Recht der Mitgliedsstaaten auf Kriegsführung nominell einschränkte. Die Vereinten Nationen sind nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreicher als ihre Vorgängerorganisation. Ihr oberstes Ziel ist es, die Völkergemeinschaft künftig vor der „Geißel des Krieges“ zu bewahren. Das „Parlament der Menschheit“ (Paul Kennedy) genießt ungeachtet vielfältigen Versagens großes Ansehen.

1944 legte der österreichisch-ungarische Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Karl Polanyi eine aktuell viel beachtete Analyse („The Great Transformation“) des Übergangsprozesses von ungezügelten marktwirtschaftlichen Eruptionen im 19. Jahrhundert in eine gesellschaftliche Ordnung vor. Letztere stabilisierte letztendlich das kapitalistische Chaos. Der Sozialist Polanyi betrachtet dieses Ringen vornehmlich in England. Er zeigt den langen Widerstreit zwischen den Befürwortern der selbstregulierenden Kräfte des Marktes und ihren Gegnern, die das Gemeinwohl im Blick behalten.

Rezipiert wurde die Schrift Polanyis unter anderem in dem viel debattierten Hauptgutachten „Welt im Wandel“ (2010) des Wissenschaftlichen Beirats der Bundersegierung bezüglich der globalen Umweltveränderungen.

Wer zurückblickt auf große Übergangsentwürfe vergangener Jahrhunderte, der erkennt unschwer ihren wesentlichen Hintergrund: den angesichts von Krieg und Leid erwachsenen Wunsch nach einem besseren Morgen. Ein solches eindringliches Szenario fehlt den heutigen Zukunftsmachern. Herbeiphantasierte Untergangsvisionen sollen für adäquaten Ersatz sorgen.

Der Klimawandel dient schon einige Zeit als Schrittmacher für eine partiell deindustrialisierte Zukunft, in der alles anders sein wird – von den Eßgewohnheiten über das Gebärverhalten bis zur Alltagsmobilität. Diese Botschaft zeichnet auch das Buch des Jahres 2020 aus: Klaus Schwabs und Thierry Mallerets Erörterungen zum „großen Umbruch“ geben Einblicke in das Denken der Finanz- und Wirtschaftseliten. Sie liebäugeln mit einer großen Vermögensumverteilung. Da die meisten Zeitgenossen den Klimawandel (trotz der angeblich damit einhergehenden Unwetterereignisse) nicht als existentielle Bedrohung empfinden, kommt „Corona“ den Exekutoren der Transformation wie gerufen. Alarmistische Scharfmacher wie Karl Lauterbach und Hans Joachim Schellnhuber begrüßten Corona-Lockdowns als Blaupause für den ersehnten Klima-Stillstand. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung ging sogar so weit, einen kausalen Nexus herzustellen: Der Klimawandel sei für das veränderte Wachstum von Waldgebieten verantwortlich, die Habitate für Fledermäuse bilden. Diese wiederum hätten das Virus auf den Menschen übertragen, der am Ende der Kette als ausstehendes Puzzleteil fungiert.

Ohne die Corona-Krise und die Thematik der Erderwärmung ausführlich vergleichen zu können, fällt doch auf, daß sich beide Eckpfeiler der Neuordnung durch kognitive Unschärfen auszeichnen. Sie sind schwer zu durchschauen und daher leicht zu Kontrollzwecken zu mißbrauchen. Die Quintessenz der Transformationsgesellschaft ist vor allem durch einen „Verlust der Freiheit“ (Raymond Unger), zumindest aber durch fortwährende „Bedrohung der Freiheit“ (Maximilian Forckenbeck) charakterisiert, weiter durch signifikante Vermögensumschichtung. 

So wird im Kontext der Pandemiediskussion etliches durcheinandergeworfen: „Positive Testung“, Infektion, Erkrankung, Hospitalisierung, Beatmungsbedürftigkeit, verstorben „an“ und „mit“ Corona oder an den Folgen der Maßnahmen, Impfung sowie schwer abzuschätzende Impfnebenfolgen sind exemplarisch anzuführen. Im Kontext der Klimaproblematik zeigen sich andere Mehrdeutigkeiten: die Relation von menschengemachter Erwärmung und natürlichen Einflußfaktoren wie Sonne und Wolken, das schwer zu bestimmende Verhältnis von (Un-)Wetter und Klima, die Relevanz der Kipppunkte, die Sättigung der Absorptionsbanden des Kohlendioxids und die auf nichtlinearen Hochrechnungen beruhenden Klimasimulationen für das Jahr 2100 mittels Supercomputer und viele weitere. Die Verwirrung des Laien ist groß. Die unklare Lage ermöglicht es den Regierenden, die gesetzlichen Ausnahmezustände immer wieder zu verlängern.

Endzeitrhetorik kaschiert Nicht- und Halbwissen

Transformationsrisiken sind ein eigenes kontroverses Thema. Sie zeigen sich besonders im Rahmen der Energiewende, konkret anhand steigender Energiekosten. Besonders gefährlich für den Standort Deutschland sind Gefahren von Strom- und Infrastrukturausfällen. Solche Katastrophen sind realistischer als apokalyptische Klimaschwarzmalerei.

Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim hat angesichts solcher Konfusionen den Bestseller „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ vorgelegt, der eine Klärung wichtiger Streitfragen anstrebt. Ihre akribischen, wenn auch mainstreamigen Analysen machen die Chemikerin eher zur Ausnahmeerscheinung im Metier. Die zumeist fachfremden medialen Berichterstatter durchschlagen den gordischen Knoten üblicherweise dadurch, daß sie den Klimawandel auf das menschengemachte CO2 reduzieren. Wer einmal ein einschlägiges Fachbuch wie das von Christian-Dietrich Schönwiese („Klimatologie“) gelesen hat, kann sich über eine solche Reduktion an Komplexität nur wundern. Verbreitetes Nicht- und Halbwissen, durch Endzeitrhetorik gern kaschiert, erzeugt Unsicherheiten. Aber auch für das Ziel globaler Neuordnung gilt freilich, daß der Zweck die Mittel heiligt.

Christian-Dietrich Schönwiese: Klimatologie. 5. überarb. u. akt. Auflage, UTB, Stuttgart 2020, broschiert, 492 Seiten, 32 Euro

Mai Thi Nguyen-Kim: Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit. Wahr, falsch, plausibel? Die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft. Droemer, München 2021, gebunden, 368 Seiten, 20 Euro