© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/21 / 19. November 2021

Zwischen Kult und Krankheit: Piercing und Tattoo als Ersatzritus einer neuen Weltlichkeit
Krieg gegen den eigenen Körper
Dietmar Mehrens

Überall diese Stempel! Die gefallen den Großeltern von Toni Kroos gar nicht. „Das weiß er aber, daß ich das doof finde“, so die Oma im Dokumentarfilm „Kroos“, der 2019, im Jahr nach der verpatzten WM, herauskam. Mit „Stempeln“ meint die Oma die auffälligen Tätowierungen auf den Armen des Ex-Nationalkickers. Vor allem die ältere Generation staunt und stöhnt über die als kolossale Geschmacksverirrung empfundenen Verunstaltungen der Haut, die in einem Maße zugenommen haben, daß sich Ältere nur noch irritiert die Augen reiben. Am meisten verbreitet sind die von der Fachwelt „Körpermodifikationen“ genannten Hautverletzungen, zu denen auch die schmerzhaften Piercings zählen, unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen. 43 Prozent der 25- bis 34jährigen, mehr Männer als Frauen, haben sich mindestens einmal für einen solchen bleibenden Eingriff in ihr äußeres Erscheinungsbild entschieden (Stand: 2020). Unter den 20- bis 29jährigen ist sogar jeder zweite Deutsche tätowiert, 2006 war es nur etwa jeder dritte. Der Anteil der Tätowierten an der Gesamtbevölkerung hat sich in den vergangenen fünfzehn Jahren mehr als verdoppelt.

Während gegenwärtig jeder nicht gegen Covid-19 Geimpfte als unvernünftig gilt, reagiert die Gesellschaft auf die Tattoo-Flut mit inzwischen rund 8.000 Tätowierstudios deutschlandweit tolerant. Dabei sind die Gefahren beträchtlich: Entzündungen, Allergien, von der Nadel abgelöste Chrom- oder Nickelteilchen, die in die Blutbahn geraten, und die schwierige Entfernung der Tintenbildchen durch medizinisch zu verordnende Lasertechnik gehören zu den unerwünschten Nebenwirkungen der Körperbemalung. Ganz zu schweigen davon, daß kaum jemand mit 50 noch die gleiche Person ist wie mit 25: Was damals eine Verschönerungsmaßnahme war, bereut man heute als Jugendsünde.

Worin liegt die Faszination der Tätowierungen? Ursprünglich drückten sie die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe aus, hatten oft kultischen Charakter. Sie waren bei archaischen Stammeskulturen wie den Skythen oder im Animismus der Maori, Polynesier und Indianer verbreitet. Die eintätowierten Bilder stellten oft anthropomorphe Halbgötter mit Schutzfunktion dar. Der jüdisch-christliche Monotheismus, der sich von polytheistischer Abgötterei resolut abgrenzte, lehnt sie ab. Die Thora schreibt vor: „Einen Einschnitt für die Seele sollt ihr an eurem Fleisch nicht machen, und tätowierte Schrift sollt ihr an euch nicht machen“ (Levitikus 19,28).

Konservative Theologen betrachten die massive Zunahme der Körpermodifikationen daher auch als Rückfall ins Heidentum, Folge eines säkularen Driftens des westlichen Gesellschaftsmodells „in Richtung einer religiös gleichgültigen, mit sich selbst ganz zufriedenen Säkularität“, so der Theologe Michael Herbst. Doch es ist eine Säkularität, die das Kultische im Zivilen wiederentdeckt, sobald die postulierte Selbstzufriedenheit Risse bekommt. „Glaube, dem die Tür versagt, steigt als Aberglaub’ ins Fenster. Wenn die Götter ihr verjagt, kommen die Gespenster“, wußte schon Emanuel Geibel.

So erklärt sich das rituell anmutende „Ritzen“ vieler Jugendlicher mit kaputter Seele, das Psychologen unter „selbstverletzendes Verhalten“ (in der Forschungsliteratur SVV abgekürzt) subsumieren. Dabei bringen Heranwachsende sich, meist im Unterarmbereich, schmerzvolle Schnittwunden bei, die unter Narbenbildung verheilen. In einer Art Übersprungshandlung wird das hoffnungslose Auf-sich-selbst-Verwiesensein des Homo areligiosus zu autoaggressivem Verhalten, weil ihm in seiner Gebrochenheit ein transzendentes Gegenüber versagt ist. Ganz ähnlich funktionieren Genitalpiercings. Sie lassen sich bei vielen Mißbrauchsopfern deuten als Rekonstruktion der traumatischen sexuellen Erfahrung, bei der der Körper zum Objekt der Leiderfahrung degradiert wird und der Piercer als eine Art moderner Sündenbock fungiert, der die Traumaerfahrung wegträgt.

Brisant sind die Untersuchungsergebnisse von Aglaja Valentina Stirn, Professorin für Psychosomatische Medizin und Sexualmedizin an der Universität Kiel. Sie betrachtet das krankhafte Ritzen und die vermeintlichen Körperverschönerungen durch Tätowierungen als verwandte Phänomene. Beide, so die Fachärztin, können für Autoaggressionen stehen, bei „denen der Körper [...] intentional entfremdet, zerstört oder verletzt wird“. Klinische Stichproben zeigten, daß „Körpermodifikationen sowohl Symptom als auch begünstigender Faktor“ für Trauma-Bewältigungsstrategien sein können, die aus medizinischer Sicht problematisch sind, erläutert die Expertin auf Rückfrage die Untersuchungsergebnisse, die sie bereits 2013 zusammen mit ihrer Kollegin Johanna Möller in dem Fachaufsatz „Zwischen Autoaggression und Coping“ dargelegt hatte. „Aus empirischen Studien an Tattoo- und Piercingträgern geht hervor“, so die Autorinnen, „daß Körpermodifikation mit einigen psychopathologischen Charakteristika korreliert, darunter einer erhöhten Tendenz zu Risikoverhalten und Sensationslust, Eßstörungen bei Jugendlichen, Substanzmißbrauch, Suizidalität und emotionalem, sexuellem oder physischem Mißbrauch in der Vorgeschichte.“ Besonders bei Borderline-Patienten gab es entsprechende Befunde, verweist Stirn auf neuere Forschungsergebnisse (Vizgaitis/Lenzenweger, 2019).

Der Zusammenhang zwischen Mißbrauch und der Aneignung von körpermodifikativem Verhalten im Erwachsenenalter ist in der Forschung schon länger bekannt. Mehr als jeder vierte Körperverschönerer (27 Prozent) ist in der Kindheit durch selbstverletzendes Verhalten auffällig geworden. Viele geben als Grund für ihr Verhalten den erwarteten Schmerz an; sie sind aggressiv, neigen zu Sucht- und Zwangsverhalten: Tätowierung und Piercing als Ausdruck leidvoller Lebenserfahrungen, eines destruktiven Verhältnisses zum eigenen Körper, zur eigenen Identität?

Das bringt selbstverletzendes Verhalten und Körpermodifikation in Verbindung mit einem anderen gesellschaftlichen Trend, der die Abkehr von bewährten Normen markiert: dem Geschlechtsrevisionismus oder Genderismus. Als deren tragikomischen Don Quijote könnte man den zur lebenden Ikone hochgejubelten Eurovision Song Contest-Sieger Tom Neuwirth alias Conchita Wurst betrachten, der sich ein paar Jahre nach seinem triumphalen Sieg 2014 in Kopenhagen als arme Wurst zu erkennen gab, der unter Depressionen leide. Er habe plötzlich erkannt, daß er sich selbst nicht mehr spüren könne und dringend Hilfe benötige, so der Travestiekünstler. Die Wortwahl weist eine verblüffende Parallele zu Aglaja Stirns Befunden auf. Denn auch bei den von ihr untersuchten Phänomenen geht es häufig darum, sich selbst intensiver zu spüren. Die Psychotherapeutin nennt das die „selbstfürsorglichen Wirkungen von Tattoos und Piercings“. Durch einen bewußten Akt lasse sich „das Gesamtkörpergefühl, die Wahrnehmung der eigenen Person und die Wahrnehmung durch andere“ verändern.

Nach dem Gesagten noch eigens auf Tom Neuwirths Tätowierungen hinzuweisen hieße, Eulen nach Athen zu tragen. Eine amerikanische Studie (Koch/Roberts/Armstrong: „College students, tattoos, and sexual activity“) konnte bereits vor über fünfzehn Jahren den Zusammenhang zwischen Tätowierungen und einer hedonistisch gelebten Sexualität nachweisen. Und die von Stirn befragten Probanden gaben fast ausnahmslos an, daß sie ihre Tätowierung oder ihr Piercing als „sexuell oder erotisch konnotiert empfinden“. Mit Blick auf die Transgender-Thematik gibt die Kieler Professorin zu bedenken, „daß der Wunsch nach einem anderen Geschlecht (und damit ggf. einer Geschlechtsanpassung) in manchen Fällen mit Identitätskonflikten in der Jugend verwoben sein könnte (in manchen Fachkreisen auch als ‘rapid onset gender dysphoria’ bezeichnet). Körpermodifikationen im Kontext geschlechtsinkongruenter Entwicklungen legen eine Verbindung zwischen Körpererfahrung und Identitätserfahrung, zwischen der Wahrnehmung von Geschlechtsidentität und der Zuschreibung des Geschlechts aufgrund der körperlichen Erscheinung durch andere nahe. Daß in der Entfernung zum Beispiel der Brüste und des weiblichen Genitals eine Autoaggression steckt, ist eine Frage, der in der aktuellen Forschung bislang wenig bis gar nicht nachgegangen wird.“

Mit ihrer Geschlechtsidentität rang auch Lisa Müller (Name geändert). Sie lebte in den vier Jahren vor dem Erreichen der Volljährigkeit als Junge. Dann der spektakuläre Bruch: 2019 bekannte die junge Frau in einem Interview mit dem Magazin Zukunft CH, was sie bewog, sich dem geschlechtsrevisionistischen Trend folgend auf derart exzentrische Art auszuprobieren: „Ich bekam mehr Aufmerksamkeit und erlebte Bestätigung. Aber gleichzeitig empfand ich immer mehr Leere und nahm immer mehr Drogen.“ Ein exzessiver Lebensstil mit einer Vielzahl sexueller Beziehungen habe sie innerlich ausgehöhlt, erklärt Lisa, und ein Gefühl der Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit hinterlassen. „Im Endeffekt war ich traurig und allein. Von Menschen war ich so oft enttäuscht und betrogen worden, und die Drogen gaben jeweils auch nur einen kurzen Kick.“

Mit den Selbstmordgedanken, die sich schließlich einstellten, war Lisa in guter Gesellschaft. Depressionen, die sich bis zum Lebensüberdruß steigern können, sind die treuen Begleiter der meisten „Transgender“-Menschen. Tom Neuwirth ist nur einer von ihnen. 2018 sagte er der Bild-Zeitung: „Es hat sich irgendwann unangenehm angefühlt, als Frau gesehen zu werden“ und führte damit den Agitprop-Rummel um Conchita Wurst ad absurdum.

Man muß beim Anblick kraftstrotzender Tätowierter wie Toni Kroos nicht gleich an Morbidität und Verfall denken. Das beschriebene Syndrom betrifft nicht die Mehrheit der Körpermodifizierten, aber doch eine alarmierend hohe Zahl, die Gegenmaßnahmen erforderlich macht: Der Staat sollte endlich damit aufhören, seine Bürger einer destruktiven Beliebigkeit auszuliefern, die seine Entkoppelung von anerkannten Normen und tradierten Werten nach sich zieht.

Wie Sänger Tom Neuwirth hat auch Lisa Müller das selbstzerstörerische Experiment mit dem Ich hinter sich gelassen. Ihre Bilanz: „In der Regel sind Anerkennung und Bestätigung das Kernthema, gar nicht das Geschlecht. Innere Heilung und Versöhnung mit dem biologischen Geschlecht sind möglich – dafür steht meine Geschichte.“






Dr. Dietmar Mehrens, Jahrgang 1967, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Er lehrte zwischen 2003 und 2016 deutsche Sprache und Literatur an zwei verschiedenen Universitäten in der VR China sowie an der Kim-Il-sung-Universität in Pjöngjang. Zwischendurch, 2005 bis 2008, war er Moderator und Redakteur des von ihm konzipierten Kino-Ratgebers film-o-meter, ausgestrahlt auf Bibel.TV. Heute ist er als Dozent und Publizist in der Region Hamburg tätig. Mehrens ist Herausgeber der Aufsatzsammlung „Zurück zu Gott! Der Weckruf von Notre-Dame“, der einen Text des emeritierten Papstes Benedikt XVI. enthält.

Foto: Tätowiert und gepierct: Der Anteil der Tätowierten an der deutschen Gesamtbevölkerung hat sich in den vergangenen fünfzehn Jahren mehr als verdoppelt