© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/21 / 19. November 2021

Heißer Streit um die Unvergleichbarkeit
Holocaust und Kolonialschuld: Der australische Historiker A. Dirk Moses hat eine geschichtspolitische Debatte entfacht
Thorsten Hinz

In Echtzeit erleben wird die Verabschiedung des wirkungsmächtigsten Mythos der Nachkriegszeit: die Annahme der Singularität, der Unvergleichbarkeit, der meta-historischen Qualität, ja der negativen Göttlichkeit des Holocaust. Dieser seit längerem in Gang gekommene Prozeß hat durch das Buch „The Problems of Genocide“ des australischen Historikers A. Dirk Moses und seine begleitenden Interviews, Aufsätze und Repliken einen weiteren kräftigen Schub bekommen. Für die Deutschen, die in diesem Holocaust-Narrativ als „Tätervolk“ figurieren, ist die Entwicklung von besonderer Bedeutung.

Der prominenteste Singularitäts-Narrator, der Historiker Dan Diner, hatte vor knapp 35 Jahren den Begriff „Zivilisationsbruch“ geprägt, der viel mehr meint als die Tatsache, daß die Monstrosität des Massenmords an den europäischen Juden die zivilisatorischen Standards und Vorstellungen sprengt. Er meint ein Ereignis, „das sich konventionellem Verstehen entzieht“ und ein  „Niemandsland des Verstehens“ bildet, das „aus seiner geschichtlichen Verankerung herausgerissen“ ist und unsere „ontologische Sicherheit“ nachhaltig dementiert. Soll heißen, daß der Holocaust keinerlei nachvollziehbare Vorgeschichte gehabt habe, keinen ökonomischen, militärischen, politischen oder anderweitigen Berechnungen, Erwägungen und Sachzwängen gefolgt sei. Folglich muß er einem absoluten, grundlosen, gleichsam teuflischen Bösen entsprungen sein, das seinen Grund allein in sich selbst findet – und von dem Kant allerdings schrieb, daß es auf die Menschenwelt nicht anwendbar sei.

Dennoch – oder gerade wegen ihrer Schein-Sakralität – ist die Erzählung unter dem Metonym „Auschwitz“ nach der Wiedervereinigung in die Funktion eines Gründungsmythos gerückt. Die heutige Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration Annette Widmann-Mauz begründete 1999 im Bundestag ihre Zustimmung zum Holocaust-Mahnmal in Berlin wie folgt: „Auschwitz ist ein zentraler Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland. Die Arbeit an diesem Mythos bewegt jede Generation aufs neue.“ Der Grünen-Politiker Joschka Fischer – seinerzeit amtierender Außenminister – benutzte das Wort gleichfalls und sprach 2005 vor der UN-Vollversammlung von einem „Zivilisationsbruch ohne Beispiel“.

Das Mythen-Konstrukt hatte sich im vorpolitischen Raum lange vorbereitet. Mit dem Historikerstreit 1986/87 war sie hegemonial und schließlich für die von der Entlassung in die Souveränität überforderte Bundesrepublik zu einem geistig-moralischen Sicherheitsanker geworden. Die Lesetournee des US-Historikers Daniel Goldhagen durch Deutschland 1996 wurde schließlich zu einem gesellschaftlichen Coming-out. Im Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ hatte Goldhagen den Holocaust als nationales Projekt der Deutschen dargestellt, die ihrem seit Urzeiten eingefleischten, eliminatorischen Antisemitismus gefolgt waren. Er hatte sie – um mit Kant zu sprechen – als kollektives „Subjekt zu einem teuflischen Wesen gemacht“. Seine Thesen verstärkten die negative Sinnstiftung. Stolz vermerkte er, daß die Karten für sämtliche 2.400 Plätze in der Münchner Philharmonie „in Windeseile vergriffen waren (...) und die Organisatoren mühelos auch das Olympiastadion hätten füllen können“. Gerade junge Zuhörer verfolgten seine Ausführungen mit glänzenden Augen.

Seitdem kann von einer Holocaust- und einer daraus abgeleiteten Schuld-Transzendenz gesprochen werden, die das politische, geistig-kulturelle und öffentliche Leben durchzieht. Der Einwand, daß der Holocaust von Menschen in Gang gesetzt wurde, er folglich im Bereich das Menschenmöglichen lag – und liegt, hat nichts dagegen ausrichten können. Wenn Diner von einer „Durchbrechung aller bisher als gewiß erachteten ethischen und instrumentellen Schranken von Handeln“ spricht, so heißt das nichts weiter, als daß die Gewißheiten falsch waren. Um so nötiger war eine Erdung, eine Historisierung des Verbrechens, wie sie Ernst Nolte mit dem „kausalen Nexus“ zum bolschewistischen Terror unternahm. Das gegenteilige Ergebnis des Historikerstreits, der daraus folgte, ist bekannt. 

„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“, versprach Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 den Deutschen und mahnte sie gleichzeitig, daß ihr Erinnern nie an ein Ende kommen dürfe, womit er die Erlösung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschob. Geht es nach seinem aktuellen Nach-Nachfolger, dann haben wir gut 35 Jahre später noch nicht einmal einen Anfang gemacht. Im Januar 2020 trat Frank-Walter Steinmeier in Jerusalem als raunender Beschwörer der Geschichtsmetaphysik vor ein internationales Publikum und erklärte, zwar sei „unsere Zeit (...)nicht dieselbe Zeit“ wie die des Dritten Reiches, aber „dasselbe Böse“ sei in Deutschland auch heute wirksam. Der alte Golo Mann notierte im Sommer 1990: „Keine Freude an der deutschen Einheit. Sie werden wieder Unsinn machen, wenngleich ich es nicht erlebe.“ 

Ein weißes Hegemonial-Narrativ entmündigt die nichtweiße Welt

Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde der Holocaust zur „ungeschriebenen Verfassung der Bundesrepublik“ und zur „erkenntnisleitenden Warte einer integrierten europäischen Historie“ mit der Tendenz zu seiner „Universalisierung als Vermenschheitlichung“ (Dan Diner). Im Jahr 2000 unterzeichneten mehrere Dutzend Staats- und Regierungschefs die sogenannte „Stockholm Declaration“, die mit der Aussage beginnt: „Der Holocaust (die Schoah) hat die Zivilisation in ihren Grundfesten erschüttert. In seiner Beispiellosigkeit wird der Holocaust für alle Zeit von universeller Bedeutung sein.“ Erziehung, Gedenken und Forschung zum Thema Holocaust seien zu stärken. Betrachtet man das Foto der versammelten Spitzenpolitiker, sieht man ausschließlich Weiße, was im nichteuropäischen, postkolonialen Ausland den Verdacht nährte, das metaphysische Holocaust- sei ein weißes Hegemonial-Narrativ, das die nichtweiße Welt entmündige.

In seinem Buch „Politik der Feindschaft“ schrieb der aus Kamerun stammende Historiker Achille Mbembe: „Das Apartheidregime in Südafrika und – in einer ganz anderen Größenordnung und in einem anderen Kontext – die Vernichtung der europäischen Juden sind zwei emblematische Manifestationen dieses Trennungswahns.“ Nach scharfer Kritik an seiner angeblichen „Relativierung“ des Holocaust schob er die Erklärung nach, dieser sei „etwas so Einzigartiges und Bestürzendes (...), daß es nicht nur die Deutschen, sondern die Menschheit als Ganze einschließt“. Die Vergleichbarkeit nahm er damit nicht zurück.

Der Berliner Kolonial-Historiker Sebastian Conrad monierte zuletzt die „Verrenkungen“ der Geschichtswissenschaft, weil Fragestellungen ihre Relevanz erst durch den Bezug auf den Holocaust unter Beweis stellen müßten. Das globale Zeitalter, in dem wir uns befinden, und die Verschiebungen in der Bevölkerungstruktur veränderten auch die Erinnerungspolitik. Wer an der Singularitätshese festhalte, äußere damit nur sein „Unbehagen an den Veränderungen, die die Gesellschaft gegenwärtig erfassen“. Was im Umkehrschluß heißt: Die These von der Absolutheit, der Unvergleichbarkeit, der metaphysischen Qualität des Holocaust war nie wissenschaftlich valide, sondern das Ergebnis eines politischen Dezisionismus, von konkreten Interessen und Kräfteverhältnissen.

Auch für den australischen Historiker A. Dirk Moses stellt die Singularität nur ein historisch bedingtes Erklärungsmuster dar, das er als solches verabschiedet. Sein Buch „The Problems of Genocide“ hat in Deutschland schon Staub aufgewirbelt, noch ehe es ins Deutsche übersetzt worden ist. Moses, dessen Mutter Deutsche ist, hat in verschiedenen Medien auf die Kritik reagiert. Auf dem Schweizer Online-Magazin „Geschichte der Gegenwart“ hat er einen Text mit dem Titel „Katechismus der Deutschen“ publiziert, in dem er den starren Konnex zwischen der „Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch“ und den politischen Verpflichtungen Deutschlands, die daraus gefolgert werden, mit Sarkasmus abhandelt. Der Katechismus sei „im Austausch mit amerikanischen, britischen und israelischen Eliten“ entstanden, die dafür Deutschland seine „geopolitische Legitimität“ zugestanden. 

Der Holocaust habe einen direkten Bezug zum Kolonialismus

Für Moses hat der Holocaust einen direkten Bezug zum Kolonialismus. Er sei das Resultat einer Sicherheitsparanoia, die für alle Staaten gelte. Moses zitiert mit Saul Friedländer einen seiner schärfsten Kritiker, der in einem früheren Werk geschrieben hatte, „die Nazis hätten die Juden als eine tödliche und aktive Bedrohung für alle Nationen, für die arische Rasse und für das deutsche Volk“ betrachtet. Historiker wüßten, so Moses, daß solche Eliminierungen ganzer Gruppen in paranoiden und rachsüchtigen Kämpfen gegen „Erbfeinde“ keineswegs einzigartig, vielmehr in der Weltgeschichte ein verbreitetes Muster seien. 

Moses unterscheidet zwischen der „illiberalen permanenten Sicherheit“ von Diktaturen als Verbrechen gegen bestimmte ethnische, nationale oder religiöse Gruppen, und der „liberalen permanenten Sicherheit“ als Gewaltdelikte gegen Zivilisten mit Verweis auf höhere humanitäre Ziele. Der Holocaust sei geradezu die Inkarnation des Verbrechens der „illiberalen permanenten Sicherheit“ gewesen. Hierin liegt seine exzeptionelle Bedeutung, aus der sich aber keine Unvergleichbarkeit oder metahistorische Qualität ergibt. Daher sei „die Rede von der ‘Relativierung’ sinnlos: Sie scheint eher einer theologisch imprägnierten Vorstellung von der Einzigartigkeit des jüdischen ‘Opfers’ verpflichtet, als einer Betrachtung des Holocaust in seinem historischen Kontext“.

Vehemente Unterstützung hat Moses von den drei israelischen Historikern Alon Confino, Amos Goldberg, Raz Sega erhalten, die in der Berliner Zeitung unter dem Titel „Kontextualisierung ist noch kein Schlußstrich“ darauf hinwiesen, daß Aufständische in den Kolonien von den Kolonisatoren „zu Feinden der Menschheit oder schlicht zu Gesetzlosen, ähnlich wilden Tieren“, zu „Hostis humani generis“, erklärt und entsprechend behandelt wurden. Auch hätten „die Nazi-Juristen bei der Ausarbeitung der Nürnberger Gesetze sich von den amerikanischen Rassengesetzen inspirieren lassen, die sich vor allem gegen Schwarze, Ureinwohner und Asiaten richteten“. Neben den ideologischen habe es materielle, „rationale“ Gründe für den Massenmord an den Juden gegeben – vom schnöden Raub bis zur Einsparung der knappen Lebensmittel im Krieg. Das wichtigste Argument sei aber dieses: „Hitler und andere Nazis glaubten tatsächlich, daß der Sieg des Judentum-Bolschewismus zur Zerstörung Deutschlands führen würde, wie es in einer Denkschrift heißt: ‘Denn ein Sieg des Bolschewismus über Deutschland würde nicht zu einem 3. Versailler Vertrag führen, sondern zu einer endgültigen Vernichtung, ja Ausrottung des deutschen Volkes.’“ Nichts anderes hatte Ernst Nolte gemeint, als er vor 35 Jahren die von seinen Gegnern skandalisierten Sätze formulierte: „Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ‘asiatische’ Tat nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‘asiatischen’ Tat betrachteten? War nicht der ‘Archipel GULag’ ursprünglicher als Auschwitz?“

Die Anhänger der Holocaust- und Schuld-Transzendenz wird die Entmythisierung zunächst verunsichern. Allerdings redet auch Moses keinem „Schlußstrich“ das Wort; es geht ihm darum, die verengte Perspektive aufzubrechen, zu der die Holocaust-Fixierung geführt hat, um den Blick für die kolonialen Verbrechen, auf eine „weiße“ Schuld gewissermaßen, zu öffnen. So kritisiert er, daß die einstige „Feindschaft des ‘Ariers’ gegenüber der Figur des ‘Semiten’“ auf den Muslim übertragen worden sei, der seit dem 11. September 2001 in den westlichen Ländern zu den „inneren Feinden“ zähle. Es könnte sich also ergeben, daß künftig in Deutschland und darüber hinaus ein religiös eingefärbter, antiweißer Schuldkomplex in dem Maß an Einfluß gewinnt, wie die aus dem Holocaust herrührende Solidarität mit den Juden abnimmt. Das wäre keine Heilung, vielmehr die quantitative und qualitative Steigerung der Konfusion im kollektiven Bewußtsein.

A. Dirk Moses: The Problems of Genocide. Permanent Security and the Language of Transgression. Cambridge University Press, Cambridge 2021, broschiert, 598 Seiten, 34 Euro

Fotos: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2020 in Jerusalem: Geschichtsmetaphysik über die deutsche Einzigartigkeit des Bösen; Rassentrennung im US-Staat Alabama während eines öffentlichen Barbecue-Festes in den dreißiger Jahren: Inspiration für die Nürnberger Rassengesetze der Nationalsozialisten