© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/21 / 19. November 2021

Otto Normalverbraucher mußte hungern
Im extrem kalten Winter 1946/47 litt das deutsche Volk unter Versorgungsengpässen, denen Hunderttausende zum Opfer fielen
Karlheinz Weißmann

Als der Deutschland-Korrespondent der Schweizer Zeitung Die Tat im April 1946 durch das Rheinland fuhr, kam es immer wieder zu verstörenden Begegnungen: So blieb „eine Kindergruppe mit wild gestikulierenden Händen wie flehende Gespenster auf der Straße stehen, als ich mit meinem Wagen eine Kreuzung passieren wollte. Ich mußte anhalten. Schreie, armselige, dünne Schreie. ‘Brot, Herr … ein Stückchen Brot!’ Die Kinder kletterten auf das Trittbrett … Und wieder ‘Brot, Herr … wir haben Hunger …, seit drei Tagen kein Stückchen Brot.’“

Die Szene konnte sich knapp ein Jahr nach Zusammenbruch und Kriegsende so oder ähnlich in vielen Teilen Deutschlands abspielen. Von dem anfänglichen Optimismus, es würden sich die Versorgungsengpässe eher über kurz als über lang beheben lassen, war nichts geblieben. Schon im Frühjahr 1946 zeichnete sich ab, daß die ursprünglich vorgesehene Zuteilung von 1.550 Tageskalorien kaum einzuhalten war. Sie ging sukzessive immer weiter zurück und erreichte mit 800 Tageskalorien – weniger als die Hälfte des tatsächlichen Bedarfs erwachsener Personen – in der französischen Zone ihren absoluten Tiefpunkt. Auch wenn man die Angaben nicht zu schematisch nehmen darf, war deutlich, daß nur die bäuerliche Bevölkerung, etwa 14 Prozent der Einwohner in den Westzonen, zu den „Selbstversorgern“ gezählt werden konnte. 

Die Masse der „Normalverbraucher“ – sarkastisch „Maximalverzichter“ genannt –, die etwa zwei Drittel stellten, mußte dagegen hungern, wenn sie keinen Anspruch auf Sonderrationen hatten, in einer Großstadt lebten, die Gelegenheit fehlte, um auf dem Land zu „hamstern“ oder auf dem Schwarzmarkt Wertgegenstände gegen Lebensmittel einzutauschen. Dasselbe galt in viel höherem Maße für Alte, Kranke, Hilflose und die 7,5 Millionen Vertriebenen, die bis Ende 1947 in die US-amerikanische und die britische Zone kamen; die französische hatte die Aufnahme verweigert.

Erst Einbruch der Arbeitsleistung rief die Alliierten auf den Plan

Die Ursachen für diese Situation lagen auf der Hand: die allgemeine Notlage in den vom Krieg betroffenen Ländern – auch in Frankreich und Großbritannien wurden Lebensmittel rationiert –, die systematische Vernichtung von Produktionsstätten und Infrastruktur, aber auch von Wohngebieten und Versorgungsstellen (etwa 50.000 bis 60.000 Höfe galten als zerstört) durch die alliierten Bombardements, der Verlust der agrarisch geprägten Ostgebiete und die Isolation der Zonen gegeneinander trotz anderslautender Abmachungen auf der Potsdamer Konferenz. Hinzu kam der von den Militärverwaltungen ausgeübte Druck, um die Ablieferung der Reparationen zu gewährleisten und die Demontage von Teilen der Industrie sicherzustellen. Maßnahmen, die unter anderem dazu führten, daß Mitte 1947 praktisch kein Saatgut, kein Dünger und keine neuen landwirtschaftlichen Maschinen zur Verfügung standen.

Obwohl bereits im Herbst 1945 bei besonders geschwächten Teilen der Bevölkerung Hungerödeme festgestellt und von der Ärzteschaft massive Warnungen ausgesprochen wurden, war man auf die Entwicklung, die im November 1946 einsetzte, nicht vorbereitet. Der außerordentlich harte Winter führte in kurzer Zeit zum Kollaps der Versorgung mit Nahrungsmitteln, Brennstoff und Medikamenten. Nicht zu reden von der Behebung der Wohnraumnot. Die Versuche, dem durch immer massiveren Zwang und Strafandrohungen zu begegnen, erwiesen sich als aussichtslos. Die berühmte Äußerung von Josef Kardinal Frings, daß in solcher Notlage der Diebstahl moralisch gerechtfertigt sei – das berühmte „Fringsen“ –, markierte allerdings nur den Grad der Hilflosigkeit, den die „klassenlose Klaugesellschaft“ (Heinrich Böll) erreicht hatte.

Abhilfe konnten unter den gegebenen Umständen nur die Siegermächte schaffen. Die reagierten allerdings erst, als der Zusammenhang zwischen Hunger und Einbruch der Arbeitsleistung, von Kommandowirtschaft und Versorgungslücken offenkundig wurde und die Proteste immer massivere Formen annahmen; allein zwischen März und Juni 1947 nahmen an Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen vor allem im Ruhrgebiet mehr als eine Million Menschen teil. Aushilfen wie der Zusammenschluß der US-amerikanischen und der britischen Zone zur Bizone am 1. Januar 1947 änderten an der Situation wenig. Zwischenzeitlich fiel die deutsche Pro-Kopf-Produktion auf das Niveau von 1865, und selbst als im Frühjahr das Schlimmste überstanden schien, erhielt der „Normalverbraucher“ nur 335g Brot, 40g Nährmittel, 270g Kartoffeln, 10g Fleisch, 8g Fett, 17g Fisch (falls zugeteilt), 2g Käse, 100ml Milch und 17g Zucker pro Tag.

Es ist unbekannt, wie viele Deutsche an Hunger oder „Hungerkrankheiten“ starben, aber wahrscheinlich muß man von einigen hunderttausend Opfern ausgehen, meist Alte, Schwache und Kinder. Und auch wer überlebte, hatte oft an mittel- und langfristigen Folgen zu leiden, ausgelöst durch den übermäßigen Verbrauch physischer wie psychischer Reserven, der zum Teil schon in den Kriegsjahren eingesetzt hatte.

Während es heute üblich ist, von der humanitären Katastrophe, die sich damals in Deutschland abspielte, entweder durch den Hinweis abzulenken, hier werde ein „Täter-“ in ein „Opfernarrativ“ verwandelt, oder das Desaster zynisch zu kommentieren –„Die Misere war selbst verschuldet, eine direkte Folge des von Nazi-Deutschland losgetretenen Weltkriegs-Infernos.“ (Der Spiegel) –, gab es in der Nachkriegszeit auch und gerade auf seiten der Sieger einzelne, die die Verantwortung sahen, die man schlicht deshalb übernehmen mußte, weil Deutschland zur bedingungslosen Kapitulation gezwungen worden war und die Alliierten die staatliche Gewalt übernommen hatten. So kritisierte der britische Sozialist Victor Gollancz scharf die „Hunger-Ethik“, der die Besiegten unterworfen worden waren: „Wenn zu wählen ist zwischen Unannehmlichkeit für einen anderen und Leiden für einen Deutschen, muß der Deutsche leiden; wenn zu entscheiden ist, zwischen Leiden für einen anderen und Tod für einen Deutschen, muß der Deutsche sterben.“ Erschüttert von den Eindrücken, die er während eines Deutschlandbesuchs gewonnen hatte, wandte Gollancz sich auch gegen die Rechtfertigungsversuche Bernard Montgomerys, des britischen Generalstabschefs, indem er dessen Argumentation dem gegenüberstellte, was Repräsentanten des NS-Regimes während des Nürnberger Prozesses zu ihrer Verteidigung vorgetragen hatten.

„Hunger“ und „Demokratie“ drohten Synonyme zu werden

Gollancz berichtete auch sehr eindrucksvoll von einem Gespräch, das er während seines Aufenthalts mit deutschen Jugendlichen führen konnte: „Sie vergleichen unsere Versprechungen mit unseren Taten: Die BBC erklärte uns, sagen sie, daß ihr kämt, um uns zu befreien, aber worauf ist alles hinausgelaufen? Ich entgegnete: Demokratie; und sie fragten, ob Demokratie Hungerrationen und das Fehlen des Lebensnotwendigen bedeute, oder das Verjagen der Menschen aus ihren Häusern oder die Sprengung von Schiffswerften, der Abriß von Fabriken und die Arbeitslosigkeit von Zehntausenden.“ Seine Gesprächspartner wollten weder die Schuld Hitlers noch die seiner Gefolgschaft leugnen, fügten aber hinzu: „Ja, sie waren schuldig, aber genauso wie die Alliierten: schaut auf die Vertriebenen, Kranken, Hungernden und Beraubten, nicht Tausende, sondern Millionen.“

Gollancz sah sehr genau die gefährliche Tendenz der Entwicklung. Denn selbst wer nicht meinte, daß NS-Propagandaminister Joseph Goebbels nachträglich recht behalte, der den Deutschen für den Fall ihrer Niederlage die Auslöschung prophezeit hatte, und wer nicht glaubte, daß der „weiße Tod“ durch die Kälte und der „schwarze Hunger“ der bewußten Dezimierung dienten, der hatte doch Grund zu der Annahme, daß die „Morgenthauer“ in den Reihen der Sieger nach wie vor Einfluß ausübten und an ihrem Konzept des „Straffriedens“ unerbittlich festhielten. 

Zum Umdenken der Alliierten haben solche Stimmen wie die von Gollancz trotzdem kaum beigetragen. Der Kurswechsel, den US-Amerikaner und Briten 1947 vollzogen, hatte vielmehr damit zu tun, daß „Hunger“ und „Demokratie“ Synonyme zu werden drohten, was weniger einer braunen Nostalgie als der Anziehungskraft des Kommunismus diente. Nach der Verkündigung der sogenannten Truman-Doktrin durch US-Präsident Harry S. Truman am 12. März 1947 galt es, durch die gesellschaftliche Stabilisierung die Gefahr einer Machtausdehnung der Sowjetunion, unterstützt durch kommunistische Bewegungen in den jeweiligen Ländern, unbedingt zu wehren. Der geistige Vater dieser Außenpolitik, der US-Diplomat George F. Kennan, stellte diese Absicht „zur Eindämmung des sowjetischen Imperialismus“ (Containment) in der Zeitschrift Foreign Affairs im Juli 1947 einem breiteren Publikum vor. Einige Monate zuvor hatte er in einer Art Memorandum an US-Präsident Truman diese Konzeption in dem berühmten „Langen Telegramm“ unterbreitet. Mit dem in Washington und London getroffenen Entschluß, einen westdeutschen Teilstaat als Bollwerk gegen die Sowjetunion aufzubauen, wurde diese als ideologischer Meilenstein im beginnenden Kalten Krieg nur fortgesetzt. Ein Land, dessen Bevölkerung Hunger und Not ausgesetzt ist, wäre dazu nicht in der Lage.

Fotos: Hungerdemonstration von Arbeitern auf dem Karlsplatz in Krefeld, April 1947: Rationen mit 800 Kalorien deckten nur die Hälfte des tatsächlichen Bedarfs erwachsener Personen; Alter Mann sucht Essensreste aus einer Mülltonne, Köln 1946: „Hunger-Ethik“