© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/21 / 19. November 2021

Wagenknecht in Grün
Der frühere Bundestagsabgeordnete der Grünen Eckhard Stratmann-Mertens plädiert für den Volksbegriff anstelle der künstlichen Kollektividentität eines Multikulturalismus
Michael Dienstbier

Wer in Zeiten wie diesen über die Identität des deutschen Volkes schreibt, lebt gefährlich. Das muß gerade der Politikwissenschaftler Martin Wagener erfahren, der für die in seinem neuen Buch „Kulturkampf um das Volk“ aufgestellte Behauptung, volkliche Identität habe auch eine auf Abstammung beruhende ethnische Komponente, ins Visier des Verfassungsschutzes geraten ist. Der bewertet diese Aussage zum jus sanguinis, die bis 1999 allgemein, und selbst heute wenigstens teilweise geltendes Staatsbrügerrecht widerspiegelt, als „extremistisch“. Konsequenz: Wagener darf seinen Arbeitsplatz, das „Zentrum für Nachrichtendienstliche Aus- und Fortbildung“ des BND in Berlin, wo er als Professor lehrt, nicht mehr betreten – Berufsverbot also. Dieses Schicksal wird Eckhard Stratmann-Mertens altersbedingt erspart bleiben. Dem ehemaligen Politiker und pensionierten Lehrer für Geschichte, Sozialwissenschaften und Religion gelingt in seinem Buch eine überaus gelungene Bestandsaufnahme des Themas, in welcher er historische, aber vor allem sozialwissenschaftliche und kulturelle Ansätze zu einem erkenntnisbringenden Ganzen vereint.

Stratmann-Mertens saß zwischen 1983 und 1990 mit einer Unterbrechung für die Grünen im Bundestag und hielt seinerzeit die erste Rede im Parlament überhaupt für die damals noch junge Partei. 1999 trat er anläßlich der von der rot-grünen Bundesregierung beschlossenen Beteiligung der Bundeswehr am Kosovo-Krieg aus der Partei aus. Der Autor wirbt für eine Rehabilitierung des Begriffes Volk und sieht dessen andauernde Delegitimierung durch den polit-medialen Komplex sowie Vertreter und Institutionen der sogenannten Zivilgesellschaft mit großer Sorge. Diese dürften bereits seine differenzierte begriffliche Annäherung an das deutsche Volk als „geschichtliche Schicksals- und Kulturgemeinschaft“, die für ihn gerade „keine Abstammungsgemeinschaft im Sinne von biologisch-genealogischer Blutsgemeinschaft“ darstellt, als kulturrassistisch abkanzeln. 

Dieser durchaus inklusiv ausgerichtete Volksbegriff bedeutet für Stratmann-Mertens nicht die Unterstützung einer Politik der offenen Grenzen – genau das Gegenteil ist der Fall. Zwischen 2012 und 2019 habe es eine Nettozuwanderung von 4,1 Millionen Menschen gegeben, die meisten davon aus Südosteuropa und dem arabischen Raum. Das stellt für ihn eine existentielle Bedrohung für Eu-ropa und Deutschland dar, da diese „das ethnische, kulturelle und soziale Gefüge dieser Gesellschaften durcheinanderwirbeln und den inneren Frieden nicht nur gefährden, sondern zerstören“ würde. 

Postmoderne Linke im Einklang mit ökonomischem Neoliberalismus

Zahlenbasiert rechnet er mit der oftmals hypermoralisch begründeten Politik der offenen Grenzen ab, die er als eine „Form von neokolonialer Ausbeutung fremder Länder“ bezeichnet. Jeder nach Deutschland abwandernde Migrant fehle in der Heimat, um dortigen Wohlstand zu erwirtschaften. In Deutschland hingegen wächst der Lohndruck gerade im unteren Segment, was hiesigen Unternehmen zugute kommt, aber die sozial Unterprivilegierten belaste. Hier wäre Platz für eine klassische Linke, sich zu positionieren. Die neue postmoderne Kulturlinke jedoch habe sich genau wie der ökonomische Neoliberalismus einer Politik der offenen Grenzen verschrieben und rechtfertige diese mit ideologischen Kampfbegriffen wie „Vielfalt“ und „Diversität“.

Den Wortführern des linksliberalen, migrantischen kulturellen Neoliberalismus widmet Stratmann-Mertens ein eigenes Kapitel. Dabei fokussiert er sich auf das Buch „Die neuen Deutschen“ von Herfried und Marina Münkler sowie das Konzept der „postmigrantischen Gesellschaft“ der Migrations-Lobbyisten Naika Foroutan und Ferda Ataman. Erstere warben 2016 anläßlich der Flüchtlingskrise für die endgültige Umgestaltung Deutschlands in ein Einwanderungsland, welches seine Identität aus einem reinen Verfassungspatriotismus ohne Bezug auf Herkunft, Kultur und Geschichte herleiten solle. Diese künstliche „Kollektividentität“, so Stratmann-Mertens, würde die aktuelle Spaltung des Landes nur noch vertiefen. Noch extremer sind die Vorstellungen Foroutans und Atamans, die den einheimischen Deutschen das Recht auf eine eigene Identität absprechen und offensiv die Umwandlung des Landes von einer organisch gewachsenen Kulturnation hin zu einem multikulturellen Vielvölkerstaat betreiben. Sowohl die Münklers als auch Foroutan und Ataman hatten 2015/16 das Ohr der Kanzlerin und haben mit ihren Visionen Einfluß auf konkretes Regierungshandeln ausgeübt.

Kann Integration gelingen? Gehört der Islam zu Deutschland? Was steckt hinter dem allgegenwärtigen Narrativ von Bereicherung durch Vielfalt? Eine große Stärke des Buches liegt in dessen begrifflicher Klarheit. So arbeitet Stratmann-Mertens sauber die Unterschiede zwischen den Schlagworten Asylant, Migrant, Flüchtling und Schutzsuchendem heraus und erläutert dabei die ideologische Agenda, die hinter der Vermischung dieser Begriffe steckt. Für die Entwicklungen seit 2015 schlägt er den Begriff „Fluchtmigration“ vor. Basierend auf seinen Analysen formuliert er am Ende konkrete Vorschläge: Stopp der Netto-Zuwanderung, Obergrenze für Flüchtlinge, Begrenzung des Familiennachzuges, Kampf dem politischen Islam. Deutschland braucht ein entspanntes Verhältnis zu sich selbst als Volk und Nation. Wenn man den Einheimischen im Namen von Vielfalt und Diversität den positiven Bezug auf eigene kulturelle und ethnische Traditionslinien abspricht, steuern wir auf Konflikte zu, die sich irgendwann nicht mehr friedlich im Rahmen bestehender Institutionen regeln lassen werden. Es ist nicht zuletzt das Verdienst dieses Buches, das Bewußtsein hierfür zu schärfen.

Eckhard Stratmann-Mertens: Wir sind ein Volk. Auf der Suche nach Identität.Verlag Tredition, Hamburg 2021, broschiert, 400 Seiten, 18 Euro