© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/21 / 19. November 2021

Der Flaneur
„Ich bin leer!“
Paul Meilitz

Wieder war ich etwas spät dran. Der erste Bus überholt mich auf dem Weg zur Haltestelle. Mit dem nächsten müßte es aber noch zu schaffen sein. Der kommt pünktlich, was angesichts der wie an einer Kette aufgefädelten Baustellen nicht selbstverständlich ist. 

Geräuschlos setzt sich der „große Gelbe“ in Bewegung. Ein durchaus angenehmes Fahrgefühl. Es ruckelt und zuckelt nicht, und bei geschlossenen Augen könnte man sich wie in einer Sänfte fühlen. Der Bus mit dem markanten Stern gleitet in die nächste Haltebucht und öffnet die Türen, schließt sie aber nicht wieder. Aus einem bisher emissionsfreien Dahingleiten weckt mich die Stimme des Fahrers: „Wegen einer technischen Störung endet die Fahrt hier. Bitte alle aussteigen.“

Das Wartezimmer ist dermaßen voll, daß mein Zuspätkommen gar nicht auffällt.

Jetzt wird es aber knapp mit der Zeit, und mein vor Monaten erkämpfter Termin bei einem Facharzt beginnt zu wackeln. Wer dort zu spät kommt, den bestraft in der Regel ein bis ins Jenseits ausgebuchter Terminkalender. Neugierig geworden, spreche ich den Mann im Cockpit an. „Ich bin leer“, antwortete er mir freundlich. Dann folgte Klartext: „Noch zehn Prozent Batteriekapazität. Wenn ich jetzt nicht umdrehe, komme ich nicht mehr auf den Betriebshof. Dabei bin ich mit 100 Prozent auf Tour gegangen. Dieser ganze E-Mist geht mir und anderen Kollegen längst auf den Keks.“ 

Der Herr über fast 400 elektrische Pferde drückt noch ein paar Tasten, schüttelt einige Male den Kopf und schaltet schließlich die Liniennummer auf „Betriebsfahrt“ um. „Ob ich überhaupt noch auf den Hof komme, weiß keine Sau“, vernehme ich noch, bevor die Tür zuklappt. 

Hoffentlich muß er nicht allzu oft anfahren, fällt mir ein, denn dabei wird der Akku besonders geschröpft. Viel mehr Zeit zum Mitfühlen bleibt nicht, denn der nächste E-Bus lädt bereits zur Weiterfahrt ein. Der diesmal recht junge Chauffeur präsentiert ein südländisches Pokerface und hinterläßt nicht den Eindruck, mit vergleichbarer Gelassenheit eine solche Lage meistern zu können. Er macht übrigens auch keine Anstalten, mein „Guten Tag“ zu erwidern. Doch sein Gefährt hält durch und bringt mich ans Ziel. Um meinen Termin muß ich mich nicht sorgen. Das Wartezimmer ist dermaßen überfüllt, daß mein Zuspätkommen gar nicht auffällt.