© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/21 / 26. November 2021

„Corona ist ja bald vorbei“
Pandemie: Die Maßnahmen werden verschärft, die Bürger weiter verunsichert
Jörg Kürschner

Meinungsverschiedenheiten zwischen der geschäftsführenden Bundesregierung und den künftigen Ampelkoalitionären, Vorwürfe der Ärzteschaft wegen Kommunikationspannen und Fehleinschätzungen der Politik sowie die anhaltende Debatte über eine allgemeine Impfpflicht verstärken zu Beginn des zweiten Corona-Winters den Vertrauensverlust der Bürger in die Handlungsfähigkeit des Staates. Zwei Machtzentren sind es in Berlin, aus denen derzeit die Corona-Politik gesteuert wird: das Kanzleramt mit Noch-Regierungschefin Angela Merkel (CDU) sowie der Bundestag, in dem die Noch-Kanzlerpartei auf die harten Oppositionsplätze verwiesen worden ist. 

Ein Konflikt, der sich bereits am Donnerstag vergangener Woche zeigte. Die neue Mehrheit aus SPD, Grünen und FDP sorgte per Gesetz für ein Auslaufen der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ – gegen den massiven Widerstand von CDU/CSU. Das bedeutet, der Bund kann keine generellen Schließungen von Schulen, Geschäften, Gastronomie oder Sportstätten mehr anordnen. Möglich bleiben aber auch weiterhin Kontaktbeschränkungen im privaten und öffentlichen Raum. Eingeführt wird bundesweit die 3G-Regelung am Arbeitsplatz und im öffentlichen Personenverkehr. Für Heime und Gesundheitseinrichtungen gelten künftig Testpflichten. 

Neuer Pandemie-Indikator ist die Hospitalisierungsrate. Diese gibt die Zahl der Menschen an, die binnen sieben Tagen wegen einer Corona-Infektion in einem Krankenhaus aufgenommen wurden – bezogen auf 100.000 Einwohner. Zu Wochenbeginn lag die Hospitalisierungsrate bei 5,28. Überschreitet die Rate einen Wert von 3 soll bundesweit eine 2G-Regel gelten. Das bedeutet, nur noch Genesene und Geimpfte dürfen Freizeit- und Sportveranstaltungen oder Restaurants und Hotels besuchen sowie körpernahe Dienstleistungen wie Friseure in Anspruch nehmen. Ab einer Hospitalisierungsrate von 6 gilt eine 2G-Plus-Regel, bei der Geimpfte und Genesene zusätzlich noch ein negatives Testergebnis vorlegen müssen. Diese Maßnahme soll für Orte gelten, an denen das Infektionsrisiko besonders hoch ist, etwa in Diskotheken, Clubs und Bars. Liegt die Hospitalisierungsrate bei 9 wollen die Länder eine Öffnungsklausel nutzen, die härtere Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen oder Verbote von Veranstaltungen ermöglicht. 

Dabei hatten Bund und Länder noch im Sommer versprochen, keinen Lockdown mehr zu verhängen. Erforderlich ist aber nach der neuen Gesetzeslage die Zustimmung der Landtage. Die Union hätte die Novelle des Infektionsschutzgesetzes im Bundesrat stoppen können, verzichtete aber auf eine Machtprobe. Kanzler-Aspirant Olaf Scholz (SPD) hatte zuvor auf der Ministerpräsidentenkonferenz mit der geschäftsführenden Kanzlerin eine weitere Sitzung der Runde zugesagt. Bereits am 9. Dezember soll „die Wirkung der auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes ergriffenen Maßnahmen vor dem Hintergrund des aktuellen Infektionsgeschehens evaluiert werden“. Wohl unter Vorsitz von Scholz, vorausgesetzt die Ampel-Koalitionäre bleiben im Zeitplan.

Doch noch hält Merkel das Heft des Handelns in der Hand. „Wir haben eine hoch dramatische Situation. Was jetzt gilt, ist nicht ausreichend“, warnte sie zu Wochenbeginn auf einer CDU-Vorstandssitzung. „Wir haben eine Lage, die alles übertreffen wird, was wir bisher hatten“. Die 2G-Regel mit Zugängen für Geimpfte und Genesene reiche nicht. Merkel sprach nach Angaben von Teilnehmern von einer Verdoppelung der Fallzahlen alle zwölf Tage. Nötig seien 27 Millionen Auffrischungs-

impfungen bis Weihnachten, ein wohl eher unrealistisches Ziel.  Der Ernst der Lage sei vielen Menschen nicht bewußt, beklagte sie.  

Die Verunsicherung dürfte mit widersprüchlichen Aussagen von Politikern und Virologen zusammenhängen. Kanzlerkandidat Scholz hatte noch im September auf einer Wahlveranstaltung vollmundig erklärt: „Corona ist ja bald vorbei.“ Merkel-Berater Christian Drosten plädierte stets für Corona-Tests, mußte jetzt einräumen, daß die Ergebnisse bei gerade Geimpften nur bedingt aussagekräftig seien. Auf parteiübergreifende Kritik war die Ankündigung des amtierenden Gesundheitsministers Jens Spahn gestoßen, die Höchstabgabemenge von Biontech-Impfstoff auf 30 Impfdosen pro Arzt zu begrenzen. Dafür soll das Präparat von Moderna bei den Auffrischungsimpfungen vermehrt eingesetzt werden. Der CDU-Politiker hatte dies mit der stark gestiegenen Nachfrage nach dem Impfstoff begründet und darauf verwiesen, daß andernfalls eingelagerte Moderna-Dosen zu verfallen drohten. 

Ärztekammer fordert Ausgangssperre für Ungeimpfte

Im Saarland haben zahlreiche niedergelassene Ärzte aus Protest angekündigt, in ihren Praxen keine Corona-Impfungen mehr anzubieten. „Wir werden in den Arztpraxen ab nächster Woche eine Vollbremsung hinlegen, da wir durch die Umstellung von Biontech auf Moderna wieder sehr viel Zeit für Aufklärungsgespräche benötigen, die wir in der jetzigen Phase der Pandemie aber schlichtweg nicht haben“, gab die Vorsitzende des Hausärzteverbands, Barbara Römer, zu bedenken. Etwas schriller äußerte sich Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), der von einer „desaströsen Kommunikation“ des Ministers sprach. Die 16 Länder-Gesundheitsminister zeigten Spahn die rote Karte. Einstimmig. Sie verurteilten die Deckelung, die „die derzeitige positive Entwicklung des Impffortschritts zu gefährden“ drohe.

Söder forcierte die Debatte über eine allgemeine Impfpflicht, auch weitere Ministerpräsidenten wie etwa der Stuttgarter Winfried Kretschmann (Grüne) zeigten sich offen für einen solchen Schritt. Dauerhaft ermögliche nur eine allgemeine Impfpflicht den Weg aus der Endlosschleife, meinte Söder, der angesichts der von Experten als zu niedrig eingeschätzten Impfquote mit einer neuerlichen Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes bereits in der ersten Dezemberhälfte rechnet. Spahn wie auch der amtierende Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) lehnten eine Impfpflicht ab. „Wir halten sie für verfassungswidrig“, kommentierte FDP-Fraktionsvize Michael Theurer die Debatte, dessen Name schon Ende vergangener Woche als möglicher Amtsnachfolger kursierte. 

Die AfD teilt diese Ansicht, sieht einen „weiteren Versuch, die Bürger in Panik zu versetzen, um von eigenen Versäumnissen insbesondere im Krankenhausmanagement abzulenken“. Der Abbau von rund 4.000 Krankenhausbetten in den vergangenen zwölf Monaten sowie die enttäuschten Hoffnungen in die Wirksamkeit des Impfstoffs würden in der öffentlichen Diskussion unter den Tisch fallen, kritisierte Bundessprecher Tino Chrupalla. 

Ursache für den Rückgang der Bettenzahl ist nach Angaben der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) die Berufsaufgabe oder Arbeitszeitreduzierung vieler Pflegekräfte wegen hoher psychischer Belastungen. Von einem „letzten Mittel“, der vierten Pandemiewelle zu begegnen, sprach der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler. In der aufgeheizten Diskussion plädierte die Ärztekammer Niedersachsen sogar für eine Ausgangssperre für Ungeimpfte und verwies auf Kliniken in Bayern und Sachsen, die die Belastungsgrenze längst erreicht hätten. In Sachsen hatten Ärztevertreter vor einer Triage, also der Einteilung von Patienten nach der Schwere ihrer Erkrankungen, gewarnt. Dabei gehe es auch um eine Konkurrenz mit Nicht-Covid-Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Tumor und Unfälle, die gegebenenfalls auf der Intensivstation behandelt werden müßten. „Da muß dann geguckt werden, wer das Nachsehen hat“, sagte Kammerpräsident Erik Bodendieck. Abgesagt wurden die Weihnachtsmärkte in Sachsen und Brandenburg. Das amerikanische Außenministerium hat eindringlich vor Reisen nach Deutschland gewarnt.





„Teil des Problems“

Der Virologe Alexander Kekulé hat davor gewarnt, zu glauben, man könne alleine durch Einschränkungen für Ungeimpfte die derzeitige Lage in den Griff bekommen. „Das allein wird nicht funktionieren. Vor allem das sogenannte 2G-Modell ist ja Teil des Problems. Geimpfte und Genesene glauben, sie wären sicher, weil man ihnen das bis vor kurzem so gesagt hat. Aber auch sie infizieren sich zu einem erheblichen Teil“, warnte er in der Welt. Dennoch sei die Impfung sinnvoll und hilfreich, mahnte der Virologe. Ihr sei zu verdanken daß es trotz einer höheren Inzidenz als im vergangenen November weniger Krankenhaus-Einlieferungen und Todesfälle gebe. (krk)