© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/21 / 26. November 2021

Grün gegen Grün
Energiewende: Wenn es um den Ausbau der Windkraft geht, steht die Öko-Bewegung vor einem Dilemma in Sachen Naturschutz
Paul Rosen

In Deutschland ist ein Kulturkampf ausgebrochen. Mit dem Mut der Verzweiflung wehren sich immer größere Teile der Landbevölkerung gegen den zunehmenden Bau von Windkraftanlagen. Botho Strauß hatte die Empfindungen dieser Menschen schon vor vielen Jahren in einem Satz zusammengefaßt: „Eine brutalere Zerstörung der Landschaft, als sie mit Windkrafträdern zu spicken und zu verriegeln, hat zuvor keine Phase der Industrialisierung verursacht.“ 

Das Besondere an diesem Kulturkampf ist, daß auf beiden Seiten Grüne stehen. Viele Grünen-Wähler, die aufs Land zogen und dort alte Bauernhöfe renovierten, um ein ruhiges Leben fernab der Großstadt führen zu können, sehen sich mit Grünen konfrontiert, die den Klimaschutz wie ein Banner vor sich her tragen und in Wäldern und auf den Fluren Industrieanlagen errichten lassen wollen, deren Nabenhöhe in vielen Fällen die des Ulmer Münsters mit 161 Metern Kirchturmhöhe erreicht.

Einen beispielhaften Fall beschrieb kürzlich die Wochenzeitung Die Zeit. Sie besuchte einen Mitkämpfer des grünen Urgesteins Joschka Fischer, der sich heute in Südniedersachsen wieder dem Kampf gegen das System verschrieben hat: diesmal gegen das grüne System der Energiewende. Auch im Dorf Rohrlack in Ostprignitz-Ruppin in Brandenburg gibt es inzwischen straff organisierten Widerstand gegen den Bau neuer Kraftwerke. Die Menschen haben sich in der Bürgerinitiative „Gegenwind“ zusammengeschlossen, um den Bau von 16 Windrädern mit über 250 Metern Höhe an der Rotorenspitze zu verhindern. Die Höhe entspricht der des Frankfurter Messeturms. Auch in Weingarten, südlich von Karlsruhe, wird heftiger Widerstand geleistet. Hier haben Natur- und Umweltschützer entdeckt, daß auf den Flächen für neue Windräder eine Population streng geschützter Springfrösche lebt.

Ein Grüner demonstriert gegen einen Naturschutz-Verein

Die Gründe des Widerstandes sind überall gleich: das Blinken der Lichter in der Nacht, eine hohe Geräuschbelästigung, Infraschallwellen, Verlust der Kulturlandschaft sowie die drohende Ausrottung von großen Greifvögeln wie dem Rotmilan durch Windkraftanlagen. Eine Untersuchung des deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt weist Windenergieanlagen sogar einen maßgeblichen Beitrag zum Insektensterben zu: 5,3 Milliarden Fluginsekten werden demnach täglich Opfer von Windrädern. 

Das Ausmaß der Landschaftszerstörung zum Beispiel in Brandenburg kann jeder sehen, der einmal einen Rundflug über Teile des Landes mitgemacht hat. Auf Feldern, Wiesen und in Wäldern finden sich zuhauf Windkraftanlagen. Jede dieser Anlagen benötigt einen befestigten Zufahrtsweg, und zur Stabilisierung der Anlage müssen rund 3.000 bis 4.000 Tonnen Beton in den Boden gepumpt werden. Folge ist eine massive Bodenversiegelung.

Brandenburg ist mit einer installierten Leistung von 7.000 Megawatt das Bundesland mit dem zweitgrößten Anteil an Windenergieanlagen. Niedersachsen führt mit rund 11.000 Megawatt installierter Leistung, Schleswig-Holstein kommt auf knapp 7.000 Megawatt, Nordrhein-Westfalen auf knapp 6.000 Megawatt und Sachsen-Anhalt auf etwas über 5.000. Die übrigen Bundesländer spielen nur eine geringere Rolle, weil sie entweder zu klein sind oder wie Bayern (2.500 Megawatt installierte Leistung) und Baden-Württemberg (rund 1.500 Megawatt) in der Vergangenheit bei der Projektierung neuer Anlagen wenig Ehrgeiz an den Tag legten – auch wegen des massiven Widerstands in der Region. 

Dabei ist es bis heute geblieben. So wurden in Baden-Württemberg von Januar bis September 2021 gerade 23 neue Windräder installiert, in Bayern waren es sogar nur acht. Dagegen wurden in Brandenburg 76 neue Anlagen hingestellt, in Niedersachsen 75, in Nordrhein-Westfalen 50 und in Mecklenburg-Vorpommern immerhin noch 19. Die Zahl von sieben neuen Windrädern pro Tag, die zur Erreichung der Klimaschutzziele der Bundesregierung aufgestellt werden müßten, ist längst Illusion. „Seit zwei bis drei Jahren sind die Ausbauzahlen bei der Windenergie in den Keller gegangen“, kritisiert der Grünen-Bundestagsabgeordnete Oliver Krischer.

Krischer kann sich bei seinen Parteifreunden und vielen Grünen-Sympathisanten bedanken, denn Naturschutzorganisationen wie der Naturschutzbund NABU leisten massiven Widerstand gegen den Windkraftausbau. In Nordrhein-Westfalen führte der grüne Bruderkampf inzwischen zu einem denkwürdigen Vorfall: Reiner Priggen, seit Jahrzehnten Kämpfer gegen Braunkohleabbau und zeitweilig auch Vorsitzender der Grünen-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag, hatte mit Parteifreunden in Düsseldorf zu einer Demonstration aufgerufen. Das ist nicht ungewöhnlich, aber daß Priggen, der heute Vorstandsvorsitzender des nord-rhein-westfälischen Landesverbandes Erneuerbare Energien ist, mit den Demonstranten ausgerechnet vor die Landesgeschäftsstelle des NABU zog, löste bundesweit Erstaunen aus.

Weniger Bürgerbeteiligung bei Ausbau der Windenergie

Der NABU gilt als Kristallisationspunkt des Widerstandes gegen Windkraft, hat aber auch in den eigenen Reihen wie beispielsweise im Landesverband Rheinland-Pfalz schwere Auseinandersetzungen zwischen Windkraftgegnern und -befürwortern hinter sich. Inzwischen positioniert sich der NABU fast überall für Rotmilane, Insekten und den deutschen Wald, während Priggen sich empört, die Organisation habe allein in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen Jahren mehr als hundert Windenergieanlagen mit 500 Megawatt Leistung ausgebremst.

In Baden-Württemberg, wo der Windkraftausbau seit Jahren stockt, bemüht sich ausgerechnet die grün geführte Landesregierung, die von der Partei selbst seit Jahrzehnten geforderte Bürgerbeteiligung einzuschränken. Barbara Bosch, der parteilosen Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg, schwebt eine Anpassung des Baurechts vor, so daß Windkraftanlagen ähnlich wie Krankenhäuser oder Bundeswehreinrichtungen von der Mitbestimmung der Bürger ausgenommen wären und auch die Kommunen nichts mehr mitzubestimmen hätten. Boschs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) forderte bereits, der Ausbau erneuerbarer Energien müsse „radikal“ beschleunigt werden. Baden-Württemberg müsse in 19 Jahren klimaneutral sein.

Allerdings kommen auf die grüne Windkraft-Lobby weitere Probleme zu. In vielen Bundesländern regt sich Widerstand gegen Anlagenbetreiber, denen vorgeworfen wird, die Sicherheit ihrer Anlagen zu vernachlässigen. Der Verband der technischen Überwachungsvereine weist darauf hin, daß es keine regelmäßige  TÜV-Überwachung der kompletten Anlagen gibt. Und Havarien von Windkraftanlagen häufen sich: In Haltern in Nordrhein-Westfalen kippte kürzlich eine Anlage bereits einen Tag vor der Einweihung um. Bei einer früheren Windkrafthavarie in Haltern mußte die Bundesstraße 58 komplett gesperrt werden. Es ist nicht die Frage, ob es zu einer Havarie mit schwerwiegenden Folgen kommen wird, sondern wann. Zwar wurde ein Antrag der Freien Wähler im Landtag von Brandenburg, eine TÜV-Pflicht für Windräder einzuführen, von den Regierungsparteien SPD, CDU und Grünen abgelehnt, aber nach einer schwerwiegenden Havarie dürfte sich die Situation ganz anders darstellen. Bundesweite Statistiken über Havarien bei Windkraftanlagen gibt es ebensowenig wie eine Pflicht zur Erfassung von durch Windräder getöteten Vögeln.

Die grüne Lobby in Berlin und in den Ländern hat in den vergangenen Jahren dafür gesorgt, daß die Investoren und Anlagenbauer von Sicherheitsvorschriften nicht behelligt werden und Belange des Natur- und Artenschutzes zurückgedrängt werden. Den wahren Hintergrund nannte die NABU-Landesvorsitzende von Nordrhein-Westfalen, Heide Naderer, indem sie darauf hinwies, daß in Priggens Vereinsvorstand Personen säßen, die durch die Naturschützer ihre monetären Interessen bedroht sähen. 

 www.nabu.de

Fotos: Windräder in der Landschaft: „Seit ein bis zwei Jahren sind die Ausbauzahlen in den Keller gegangen“; Protestplakat gegen Windräder: Sorge um Vogelschutz und Bodenversiegelung