© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/21 / 26. November 2021

Grüße aus … Bern
Umstürzlerische Kuhglocken
Frank Liebermann

Es ist Feierabend. Ich sitze mit zwei Kollegen vor einer Bar, rund zweihundert Meter entfernt vom Bundeshaus. Das Schweizer Parlament ist normalerweise frei zugänglich. Es gehört zur Berner Kultur, daß Spitzenpolitiker auf Personenschutz verzichten, wenn sie durch die Stadt gehen. 

Heute ist alles anders. Die Polizei hat die Straße direkt vor uns gesperrt. Wir trinken zügig, aber ohne Hast die verdienten Feierabendbiere, während die Uniformierten eine Straßensperre aufbauen und schuften müssen. Absperrgitter und Wasserwerfer schaffen eine Blockade; dahinter stehen die mit Kampfanzügen und Schilden ausgestatteten Beamten. Sie gehen hin und her und wirken angespannt.

Der Wirt motzt heftig. Die regelmäßigen Demonstrationen haben ihm das eh schon rückläufige Geschäft vermiest. Wer nicht wie ich frühzeitig den Weg zu ihm gefunden hat, muß sich durch Umwege und Sperren kämpfen. Viele Gäste bleiben deshalb daheim. Dem Corona-gestreßten Unternehmer schlägt das auf den Geldbeutel und das Gemüt. „Die einen tragen Verantwortung, die anderen Kuhglocken“, lamentiert er. Lockdown, Kurzarbeit, reduzierte Öffnungszeiten und die Demonstrationen, alles kratzt an seinem Nervenkostüm.

Die ursprüngliche Tradition, die die Fasnacht einläutete, hat eine politische Dimension erhalten.

Von weitem erschallt das Glockenläuten der Freiheitstrychler, die hier im Herbst 2020 erstmals in Erscheinung traten. Sie selbst bezeichnen sich als engagierte Urschweizer, die sich mit Herz und Hand für die verfassungsmäßigen Rechte der Schweizer einsetzen. Mit ihren riesigen Blechglocken, die meist kräftige Männer tragen, sorgen sie für ordentlich Lärm. Sie haben es inzwischen über die Schweiz hinaus zu Ruhm gebracht. Verschiedene deutsche Fernsehsender haben die Gruppen porträtiert, nicht ohne Hohn, Spott und Polemik. 

Die ursprüngliche Tradition, die dem Vertreiben von bösen Geistern diente oder die Fasnacht einläutete, hat eine politische Dimension erhalten. Sie wollen für die Freiheit läuten, und damit die angebliche Corona-Diktatur beenden.

Der Lärm steigert sich, dann nimmt er wieder ab. Die Demonstranten haben heute eine andere Route gewählt, sie bewegen sich durch die Hauptgasse. Die Ecke in der wir sitzen, bleibt von der Demonstration verschont. Heute herrscht Ruhe. Der Wirt ist trotzdem genervt. Sein Lokal ist leer, nur unsere kleine Runde und ein Nachbartisch bemühen sich redlich, seinen Umsatz zu steigern.

Als ich zum Bahnhof laufe, drückt mir ein Demonstrant einen Flyer in die Hand. Das Pamphlet ist liebevoll selbst gemacht, es warnt vor den schlimmen Folgen der Impfung. Da ich das bereits erledigt habe, kommt er zu spät. Ich bin nämlich schon weiter. Nächste Woche bekomme ich die Grippeimpfung.