© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/21 / 26. November 2021

„Vergeßt uns nicht“
Reportage aus dem zerstörten Ahrtal: Freude über die vielen Helfer und Unmut über die Bürokratie
Martina Meckelein

Die Sonne strahlte. Es war ein heißer Sommertag, dieser 17. Juli 2021. Ein flüchtiger Blick vom Bergkamm auf das Ahrtal herunter ließ nicht einmal erahnen, daß drei Nächte zuvor hier Menschen in Todesangst sich an Dachfirste geklammert hatten. Der kleine schmale Fluß, der die Schönheit dieser Landschaft prägt, hatte sie in wenigen Stunden in eine Wüstenei verwandelt. Die Ausmaße der Zerstörungen der Jahrhundertflut im Westen Deutschlands waren von oben kaum zu erkennen. Das unendliche Leid. Die Trauer um über 180 Tote. Die Existenzängste. Alles war noch bedeckt durch meterhohen Schlamm und Geröll. Und heute? Vier Monate danach? „Sie müssen herkommen und sich das hier anschauen“, sagt am Telefon Herbert Rau aus Gießen. „Sie müssen mit den Menschen sprechen. Wir dürfen sie nicht vergessen.“ Der Hesse ist einer der Tausenden von Helfern, die sich im Juli auf den Weg gemacht hatten, um in den zerstörten Dörfern anzupacken und die Menschen zu unterstützen. Er ist bis heute geblieben.

Als ob das Leben einen anderen Stellenwert bekommen hat

Bleigrauer Himmel. Es ist feucht und kalt. Über die Schotterpisten krachen Kipplaster, riesige Traktoren, zwischendrin Schienenersatzbusse. Die behelfsmäßige Straße von Bad Neuenahr Richtung Mayschoß windet sich am Flußbett der Ahr entlang. Immer wieder engen Bauzäune und rot-weiße Gitter die eh schon schmalen Fahrspuren ein. Rechts teils steil aufragende Felsen, links zerstörte Brücken, von denen nur noch die Pfeiler stehen, und Häuser, deren Mauern weggerissen sind. „Entlang der Ahr sind viele Gebäude verloren“, sagt Rau. „Entweder wurden sie von der Flut direkt abrasiert oder so zerstört, daß sie abgerissen werden mußten, weil die Statik es nicht mehr hergibt. Dann gibt es die Häuser, die mit Heizöl kontaminiert sind und jetzt abgerissen werden müssen“, betont der Hesse. 

Und dann gibt es die, die teils beschädigt sind, aber Bestandsschutz haben. Obwohl es besser wäre, sie abzureißen, weil sie im hochwassergefährdeten Bereich stehen, ist ein Abriß mit anschließendem Neubau nicht erlaubt, nur eine Sanierung.

Einen persönlichen Bezug hat Rau nicht, um im Hochwassergebiet zu helfen. Er hatte nur einem Freund einen kleinen Bagger ausgeliehen, der im Ahrtal bei Bekannten aufräumen wollte. „Als er wiederkam, fragte ich: ‘Und wie war es da?’ Und da sagte er: ‘Das kannst du dir nicht vorstellen.’ Da habe ich mir gesagt, wenn es wirklich so schlimm ist, dann hilft kein Bobcat, dann muß da schweres Gerät runter.“

Rau sammelt 10.000 Euro Spenden in zwei Tagen und macht sich dann mit seiner Belegschaft und den Maschinen auf den Weg. „Als wir in Marienthal ankamen, dieser Ort war uns von der Bergehilfe zum Räumen zugewiesen worden, erinnerte mich das hier an Romanbeschreibungen des Erssten Weltkrieges. Diese Zerstörung, dazu dieser süßliche Geruch, eine Mischung aus Heizöl, Wein und Verwesung. Und überall verstörte Menschen. Dieses Ausmaß der Zerstörung hatte ich mir nicht vorstellen können.“

 Drei Häuser sollten er und seine Leute räumen. „Da ist schon eine Hemmschwelle, das sind schließlich ganz intime Dinge, Fotos, Papiere, Erinnerungen wildfremder Menschen, die wir dann einfach in den Müll warfen.“ Während Raus Belegschaft räumt, machen sich zwei seiner Mitarbeiter auf den Weg, um einen neuen Einsatzort auszukundschaften. Den finden sie in Dernau, im Ahrweg. „Wir waren die ersten Helfer. Die Leute haben sich wahnsinnig gefreut. Und dann packt man an.“ Rau beschreibt seinen ersten Kontakt zu einer Anwohnerin. „Die Frau stand auf dem Balkon und warf Müll auf die Straße. Ich habe sie einfach gefragt, ob wir den wegräumen dürften. Da hat sie schallend gelacht und „Ja, bitte“ gesagt. Aus diesem ersten Kontakt ist eine Freundschaft geworden.“

 Der Umgang der Menschen untereinander, aber auch mit Wildfremden, scheint in den Ahr-Dörfern nicht nur höflich, er scheint sorgsamer, offener und auch zugewandter als anderswo zu sein. So, als ob dem Leben ein anderer Stellenwert zugemessen wird. „Vielleicht, weil der Tod für uns hier allgegenwärtig war. Um uns herum wurden Leichen gefunden“, sagt Rau. Fast jeder, den man nach seinen Erlebnissen in dieser Nacht fragt, kommt irgendwann auf den Tod zu sprechen – jeder kennt eine betroffene Familie.

 So auch Thorsten Rech. Vor vier Monaten gab er der JUNGEN FREIHEIT ein Interview. Der Gastronom aus Mayschoß hatte das Hochwasser ganz allein in seinem Fachwerkhaus am Bahnhof überlebt. „Es war stockdunkel in der Nacht“, sagt Rech und dann, fast, wie zu sich selbst: „Wir sahen die Blaulichter der Einsatzfahrzeuge, oben auf den Bergkämmen, aber sie bewegten sich nicht.“ Wie muß dieses nahe, aber doch so unerreichbar weit entfernte Hilfsversprechen auf die verzweifelten Menschen dort unten im Tal gewirkt haben?

 Vier Menschen aus dem Ort und zwei Touristen fanden in der Nacht den Tod. Den beiden Touristen hatte Rech noch geraten, mit in seine Wohnung zu kommen, doch sie lehnten ab. Rech wurde am folgenden Tag mit dem Hubschrauber evakuiert. Zwei Tage später trafen wir uns, standen gemeinsam auf einem Bergkamm und schauten auf das untergegangene Mayschoß. 

Heute sitzen wir in der Gaststube „Zum Krisenherd“, die Rech in den Räumen der Winzergenossenschaft betreibt. Hier kocht er 150 Essen pro Tag – für die Helfer und die Dorfbewohner. Es gibt Käse-Spinat-Spätzle und Bananenquark. „Jeder spendet, soviel er gerade geben kann.“ In diesen vier Monaten hat er es geschafft, sein Haus in Mayschoß und eines in Ahrweiler zu entkernen. „In meiner Wohnung im ersten Stock kann ich wieder seit September wohnen. Ich habe Strom, warmes Wasser und ein schnelleres Internet als vorher. Die Telekom will demnächst Glasfaserkabel verlegen.“ Ein funktionierendes Internet ist für seinen Weinhandel zwingend notwendig. Plötzlich deutet Rech mit einem leichten Kopfnicken zu einem grauhaarigen Mann, der zwei Tische weiter sitzt. „Mit dem sollten Sie sprechen, das ist unser Chef des Krisenstabs.“

Eine selbstgebaute Straße als Verbindung zur Außenwelt

Sein Name ist Gerd Baltes, ein pensionierter Polizeibeamter der Landespolizei Nordrhein-Westfalen mit Erfahrungen aus Afghanistaneinsätzen. Deshalb wurde er auch Leiter des Krisenstabes. „Wir waren hier die ersten zwei Wochen von der Außenwelt abgeschlossen“, schildert er. „Das erste Gebot in solch einer Lage ist Retten und Bergen. 70 Menschen konnten durch Hubschrauber der Landespolizei evakuiert werden. Wir mußten den Verkehr zum Laufen kriegen, die Straßen beräumen. Die Versorgung mit Essen sicherstellen. Medikamente und Wasser bereitstellen. Die Kirche wurde das Lager für Sachspenden.“ 

 Die einzige Brücke, die standhaft geblieben war, sägten und schnitten die Helfer und Einwohner von meterhoch aufgetürmten Baumbarrikaden frei. Allein diese Arbeit dauerte zwei Wochen. Ein Bauunternehmer im Ort baute eine Versorgungsstraße, die die Verbindung zur Außenwelt wurde. „Wir hatten zwar keinen Krankenwagen, aber der Erste  Leitende Notarzt aus Bad Neuenahr wohnt hier, und zum Glück hatten wir hier Krankenschwestern. Denn die Knochenbrüche häuften sich bei den Aufräumarbeiten. 

Am dritten Tag hatte sich eine Feuerwehr aus Neustadt an der Weinstraße zu uns durchgekämpft. Die hatten in der Etappe gelegen. Dann waren die einfach losgefahren. Mit einem Finger auf der Landkarte hatten sie sich Maischoß ausgesucht. Die bauten Duschzelte auf und haben einen Richtfunk hingelegt – alles eigeninitiativ. Sie erzählten uns, daß unglaublich viele Helfer dort oben auf Einsatzbefehle warteten.“ Um die Seuchengefahr zu bannen, sammelten die Mayschosser alle verderblichen Güter ein und verbuddelten sie in fünf Gruben, schütteten immer wieder Kalk drüber. „Die müssen wir jetzt wieder öffnen und entsorgen. In der vierten Woche kamen dann Pioniere der Bundeswehr. Eine Supertruppe, die hatten ja auch alle einen Zivilberuf. Ich bekam von ihnen eine Liste, wer was gelernt hatte, und so setzten wir sie ein.“

 Mit den Ärzten kamen auch die sogenannten Lila Jacken. „Diese Kleidung tragen die Psychologen, um aufzufallen“, sagt Baltes. „Jeder aus dem Dorf konnte sie ansprechen, um Rat fragen. Ängste waren in der ersten Zeit weit verbreitet“. Bei ihm selbst, so erzählt er, löste Regen in den darauffolgenden zwei Monaten Angstgefühle aus. „Denn in den Tagen vor dem Hochwasser und auch noch an dem 14. Juli hatte es andauernd geregnet.“ 

Das Zusammenleben im Dorf mußte neu geregelt werden. „Wir stellten Bänke auf dem Friedhof auf und saßen zwischen Gräbern. Wir fragten uns, ob wir das eigentlich dürften. Als junge Leute nach drei Wochen öffentlich Musik gespielt hatten, fragten wir uns, ob das statthaft ist.“ Baltes lächelt ein wenig und sagt dann: „Ja, darüber haben wir wirklich diskutiert. Und ja, es ist statthaft.“ 

 Immer mehr Helfer erreichten Mayschoß. Und Baltes, wie auch jeder Einheimische, den man heute fragt, findet für den Einsatz der freiwilligen Helfer nur Superlative des Dankes. Aber auch das muß gesagt werden: es fehlte an Unterstützung des Bundes und des Landes. „Für jede Anforderung hatten wir den offiziellen Weg gewählt. Die ersten sechs Wochen kam keine Antwort. Als Gemeinde haben wir jetzt unterm Strich ein Auftragsvolumen von 3,5 Millionen Euro in die Hand genommen.“ Genau so habe er auch die Situation der Ministerpräsidentin Malu Dreyer, dem Bundespräsidenten und dem Innenminister geschildert. „Da war keine Presse dabei, die wollten sich wirklich ein Bild von der Lage machen. Und ich habe den Eindruck, daß es danach gekracht haben muß. Denn dann funktionierte es mit der Unterstützung.“

 Und wie wird es weitergehen? „Der Wiederaufbau wird eine große Aufgabe sein. Wir werden eine Anstalt des öffentlichen Rechts mit den Gemeinden Rech und Dernau bilden. 43 gemeindeeigene Projekte haben wir identifiziert. Dafür brauchen wir Leiter. Ein Nahwärmenetz wollen wir errichten, eine Parkraumbewirtschaftung, und den Tourismus müssen wir ankurbeln.“ Und wie steht es mit Weihnachten? „Eine Messe soll in der Kirche stattfinden. Es wird ein ruhiges, nachdenkliches und sicher auch bedrückendes Weihnachten.“ 

„Was soll der begutachten, wenn alles weg ist?“

Abends schlendert eine Frau am Bahnhof in Bad Neuenahr entlang. „Ich wohne dort oben in einem Penthouse“, sagt sie und zeigt auf einen Hügel. „Wissens Sie, wir hatten keinen Strom und kein Wasser, eines unserer Autos war abgesoffen. Das Elend hier konnte ich mir nicht anschauen, da bin ich für vier Monate nach Mallorca gereist.“ 

Wer diese Worte hört, glaubt auf den Arm genommen zu werden. Aber unverdrossen redet die adrett aussehende Dame weiter: „Es ist schon beeindruckend, was die ehrenamtlichen Helfer hier geleistet haben.“ Auf den Einwurf, daß, ohne die Einheimischen, die hier um ihre Häuser gekämpft haben, auch kein Ehrenamtlicher aufgekreuzt wäre, stutzt sie, und sagt dann: „Ich spende jetzt für ein Projekt, zehn Euro im Monat, das merkt man ja nicht.“ „Solche Leute gibt es hier auch, leider“, sagt eine Apothekerin. „Das sind Zugezogene, die sind hier nicht verwurzelt.“

 Zugezogen ist auch der Italiener, der bis zum 14. Juli ein Einzelhandelsgeschäft in Bad Neuenahr besaß. Jetzt arbeitet er als Taxifahrer. Er schimpft über die deutsche Bürokratie. „Die Versicherung verlangt, daß ein Sachverständiger mein Ladengeschäft in Bad Neuenahr begutachten soll“, erzählt er. „Was soll der begutachten, wenn alles weg ist? Und die Stadt verlangt von uns Händlern für die provisorischen Zelte, die wir statt der Ladengeschäfte jetzt haben, 13 Euro pro Quadratmeter Miete. Da liegen wir bei 15 Euro mit Mehrwertsteuer. Soviel habe ich ja für mein Ladengeschäft an Miete gezahlt.“ Trotzdem sei er froh, seine Familie mit dem neuen Job ernähren zu können. „Es muß doch auch weitergehen“, sagt er. Sein Handy klingelt, ein Fahrgast wartet auf ihn. „Die Hauptsache ist, daß wir nicht vergessen werden von euch da draußen“, sagt er zum Abschied. Wer sagte das noch einmal? Genau, Herbert Rau. Und er betont beim Anblick einer zerstörten Brücke in Dernau: „Man hat einfach hier das Gefühl, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, das Richtige zu tun.“

Fotos: Helfer Herbert Rau ist bis heute geblieben: „Man hat einfach hier das Gefühl, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, das Richtige zu tun.“; Im Zentrum von Ahrweiler: Zerstörte Häuser und Wege, wohin man schaut