© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/21 / 26. November 2021

Jenseits von Camus – Literatur und Epidemien
Düstere Aussichten
(dg)

Auf der Suche nach historischen Entsprechungen griff der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck, ein promovierter Literaturwissenschaftler, während der ersten Corona-Wochen zu Albert Camus’ „Die Pest“ (1947). Ungeachtet aller schauerlichen Details, die in diesem Symbol-Roman über die Ausbreitung der Seuche in einer nordafrikanischen Stadt ausgemalt werden, klingt er mit der existentialistischen Botschaft aus, daß der Bazillus zwar nie auszurotten, seine Macht aber immer von einer solidarisch handelnden Gesellschaft einzudämmen sei. Weniger Erbauliches liest, wer wie Meinhard Schröder (Universität Trier) das Spektrum literarischer Verarbeitungen von Epidemien erheblich erweitert. Etwa auf Daniel Defoes „Journal of the Plague Year“ (1722) über Schrecknisse eines Londoner Pestjahres, auf Edgar Alan Poes „König Pest und die Maske des roten Todes“ (1835), Jens Peter Jacobsens „Die Pest in Bergamo“, Jack Londons weitgehend vergessene Erzählung „Die Scharlachpest“ (1912) und Thomas Manns „Tod in Venedig“ (1913). Günstige Aussichten auf eine Rückkehr zum sozialen Status quo vor Ausbruch der Epidemie, wie sie gegenwärtig das Versprechen verbreitet, Geimpfte erhielten ihre Freiheit zurück, vermitteln diese Autoren nicht. Für den müden dänischen Impressionisten Jacobsen zerbricht eine von der Pest erfaßte Gemeinschaft – „und zwar ohne Perspektive“. Zukunft gibt es auch in Poes dystopischer Erzählung nicht, und Londons Text steigert sich zur Schilderung einer „völlig veränderten Welt“, nachdem kein medizinisch-technischer Fortschritt die Pest daran hatte hindern können, die menschliche Zivilisation zu vernichten (Journal der Juristischen Zeitgeschichte, 2/2021). 


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